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Konjunktur der Begriffe
Begriffsklärungen
zu "erneuerbar" und "nachhaltig" scheinen auf
den ersten Blick nicht notwendig. Wir reden doch
ständig davon. Unablässig erscheinen neue
Publikationen, die sich mit den einschlägigen
Themen befassen. Doch vergleicht man
verschiedene Aussagen, zeigen sich
widersprüchliche Auffassungen. Und überprüft man
Aussagen auf ihren Sachgehalt, werden
irritierende Ungenauigkeiten offenkundig. Und
zwar nicht nur in irgendwelchen gut- oder
bösgemeinten Pamphleten, sondern in
qualifizierten Publikationen. So schreibt etwa
das Umweltministerium Baden-Württemberg auf
einer Webseite zu erneuerbaren Energien:
"Erneuerbare Energien haben eine zentrale
gemeinsame Eigenschaft: Bei ihrer Nutzung werden
keine fossilen Energieträger verbraucht und kein
Kohlendioxid ausgestoßen." (Gesichtet am 19.
November 2016) Nun werden aber z.B. beim Anbau,
bei der Ernte und bei der Verarbeitung
erneuerbarer Biomasse (Mais für Biogasanlagen
etwa) jede Menge fossiler Energieträger
verbraucht, zur Saatgutherstellung, zur
Düngerherstellung, zur Pestizidherstellung, für
Transporte etc.pp.. Nimmt man die Einschränkung
"bei ihrer Nutzung" ganz wörtlich, ergibt sich
die Nullaussage: "Bei der Nutzung nicht-fossiler
Energieträger werden keine fossilen
Energieträger genutzt." Und es ist geradezu
absurd zu erklären, bei der Verbrennung von
Holzpellets werde "kein Kohlendioxid
ausgestoßen".
Je nach Blickwinkel kann man die Aussage des
Umweltministeriums Baden-Württemberg als
"Bullshit" (Harry G. Frankfurt) abtun oder
nachsichtig darauf hinweisen, man wisse ja, was
gemeint sei und die Ausführung diene einer guten
Sache. Das "wissen, was gemeint sei" als
Reklamation guter Absichten dürfte
menschheitsgeschichtlich allerdings für mehr
Unheil verantwortlich sein als unverhüllte böse
Absicht. Im Namen der guten Sache
"Nachhaltigkeit" wurden, etwa bei der Versorgung
mit "gutem" Treibstoff für Autos, erschreckende
Fehler gemacht und Verbrechen gegen genau diese
"gute Sache" begangen, mit Urwaldrodungen für
Palmöl etwa. Allerdings diente das Argument der
Nachaltigkeit oft nur als Deckmantel, gerodet
hätte man auch z.B. für die Holzernte. Beim
Umgang mit erneuerbaren Energien, wo sich
zahlreiche Interessen überlagern und
Naturwissenschaft, Ingenieursleistung,
Wirtschaft, Politik und Ökologie gleichermaßen
betroffen sind, müssen wir uns daher in
besonderer Weise um begriffliche und sachliche
Klarheit und Aufrichtigkeit bemühen.
Vor allem muss entschieden korrigiert werden,
wenn die Begriffe "nachhaltig" und "erneuerbar"
als Synonyme auftauchen. Nachfolgend behandle
ich auch das weitere Begriffsfeld, dem
"regenerativ" als echtes Synonym für
"erneuerbar" angehört, aber auch Begriffe mit
größerem Abstand wie "alternativ",
"klimaneutral" und "sauber" sowie Gegenbegriffe
wie "konventionell", "schmutzig" und "fossil".
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Erneuerbar und nachhaltig? Erneuerbar oder
nachhaltig?
Unausgesprochen
gilt, dass "erneuerbar" gleichbedeutend mit
"nachhaltig" sei. Dem ist allerdings nicht so,
gerade im Energiebereich nicht. Es gibt
erneuerbare Energien, die keineswegs per se
nachhaltig sind, zumal nicht ohne besondere
Aufmerksamkeit. Und es gibt, unter spezifischen
Bedingungen, als nachhaltig einzustufende
Bereitstellungen von Energien, die nicht
erneuerbar sind.
Beide Begriffe sind Modebegriffe geworden und
inzwischen weitgehend eines verlässlichen Inhaltes
beraubt, zu leeren Signifikanten geworden, die
ganz unterschiedliche Gruppen nach eigener
Interessenlage im gleichen Kontext einsetzen.
Daher fällt es auch nicht mehr auf, wenn sie
bisweilen als Synonyme verwendet werden.
Vergewissen wir uns zunächst des Gehaltes, den
"erneuerbar" sinnvoll haben kann. Es geht um
Ressourcen, die immer wieder neu entstehen können,
wenn sie verbraucht sind. Wobei diese Erneuerung
in einem überschaubaren Zeitraum geschehen muss.
Kohle etwa kann auch neu aus abgelagertem
organischem Material entstehen - allerdings in
einem Zeitraum von mehreren Millionen Jahren und
unter spezifischen Bedingungen. Niemand würde hier
von "erneuerbar" sprechen. Wie aber steht es um
den hundertjährigen Baum, den wir als
"erneuerbaren Energieträger" fällen? Um erneuert
zu sein, benötigt er bzw. sein Nachfolger/sein
Neuaustrieb hundert Jahre. "Erneuerbar" bezieht
sich daher in sinnvoller Weise nur auf Holz
allgemein, nicht auf einen einzelnen Baum - und
dies im Kontext einer strukturell nachhaltigen
Waldnutzung.
Auch der Begriff "nachhaltig" kennzeichnet
Summenphänomene - wobei diese Phänomene nicht
dinglich verstanden sind, sondern prozesshaft, im
Blick auf Verfahrensweisen. Nicht ein Wald kann
nachhaltig sein, sondern lediglich der Umgang mit
ihm, die Bewirtschaftung - auch wenn sinnvoll
kommunizierbar ist, was unter einem "nachhaltigen
Wald" zu verstehen ist. Alleine schon kategorial
ist es daher nicht legitim, "nachhaltig" als
Synonym von "erneuerbar" zu behandeln. Im
Bedeutungskern meint "nachhaltig" auf Dauer
angelegt und dauerhaft aufrecht zu erhalten. Ist
von einer "nachhaltigen Wurst" die Rede, so meint
man damit im hier interessierenden Sprachgebrauch
eine Wurst, deren Produktions-, Distributions- und
Konsumptionsweise den Kriterien einer nachhaltigen
Wirtschaftsform genügen. Im saloppen Gebrauch wäre
ein nachhaltiges Essen allerdings lediglich eines,
das nicht nur für einen kurzen Moment sättigt,
sondern auf mehrere Stunden.
Holz als erneuerbarer Energieträger ist nicht per
se nachhaltig. Wird das Holz etwa in veralteten
Heizanlagen ohne Feinstaubfilter verbrannt, ist es
keineswegs nachhaltig, da auf Dauer so nicht mit
ihm geheizt werden kann, ohne die
Lebensbedingungen am betreffenden Ort drastisch zu
verschlechtern. Nicht nachhaltig ist auch
Feuerholz, das aus einem Kahlschlag stammt und auf
einem langen Transportweg zu uns kommt. Es ist
grundsätzlich strittig, ob die Nutzung von Holz,
das als Brennholz geschlagen wird, nachhaltig sei
angesichts des Ernteaufwandes, der Lager- und
Transportkosten und der Verbrennungsrückstände,
die in die Luft geraten. Da kann der Einsatz von
Heizöl unter bestimmten Umständen eher den
Kriterien nachhaltigen Wirtschaftens entsprechen -
etwa wenn die Vorräte, aus denen es stammt, über
Risse im Untergrund in das Grundwasser einsickern
könnten und davor abgepumpt und verbraucht werden
sollen. Erdgas nicht zu nutzen, das in tauenden
Permafrostböden lagert, könnte auch als wenig
nachhaltig sich erweisen, wenn diese Vorräte
ungenutzt in Bälde aus dem Boden entweichen. Es
gibt vor diesem Hintergrund noch weitere gute
Gründe, Erdgas als bedingt nachhaltige
Energiequelle einzustufen - der Transport ohne
zusätzlichen Verkehr, die effektive und
schadstoffarme Verbrennung sowie die technologisch
unaufwendig machbare und ökologisch sinnvoll
gestaltbare Substituierbarkeit durch "Biomethan"
als Zusatz oder bei Erschöpfung.
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Energie? Energien? Energieträger?
Energiequellen?
Wir haben uns daran
gewöhnt, von "erneuerbaren Energien" zu sprechen -
obwohl wir dabei "erneuerbare Energieträger",
"erneuerbare Energiequellen" oder in menschlichen
Zeitdimensionen nicht sich erschöpfende
Energiequellen meinen. Das liegt einmal an der
Sprachökonomie: "Energie" ist schlicht kürzer als
"Energieträger bzw. Energiequellen". Und es hat
auch damit zu tun, dass der Energiebegriff einer
der schillerndsten Begriffe ist, die unsere Kultur
kennt. Es ist unmöglich, außerhalb der
physikalischen Formelsprache exakt von Energie zu
sprechen.
Im philosophischen Wörterbuch von Heinrich Schmidt
(seit über 100 Jahren bei Kröner in Stuttgart
erscheinend) wird Energie mit Rückgriff auf das
griechische "energeia" von Aristoteles her als
"alles Kraftartige" bestimmt - oder besser: im
Unklaren belassen. Auch der dann unverzüglich
zitierte physikalische Energiebegriff aus dem 19.
Jahrhundert hilft nicht wirklich klärend weiter,
denn der besagt, Energie bezeichne eine
"Fähigkeit", Bewegung zu erzeugen oder zu
verändern. Immerhin ist diese Fähigkeit an ihren
Ergebnissen messbar und wird in Joule,
Newtonmetern oder Wattsekunden angegeben und
fassbar.
Wenn von "erneuerbaren Energien" die Rede ist,
werden damit entweder erneuerbare (nachwachsende)
Energieträger wie Holz oder nicht sich
erschöpfende Energiequellen wie Wind und durch
Gezeiten oder Schwerkraft bewegtes Wasser
bezeichnet. Die Sonne ist Energieträger (dem Holz
ähnlich), insofern sie ihre Substanz - wenngleich
erst im Verlauf von Jahrmilliarden - verbraucht,
aber auch Energiequelle (dem Feuer ähnlich),
insofern sie keinen Zustand kennt, in welchem sie
nicht Energie abgibt.
Nur wo der Singular auftritt, "erneuerbare
Energie", denken wir nicht an Energieträger oder
Energiequellen, sondern an Energie "an sich". Und
dabei wird es begrifflich schräg. Denn aus der
Physik wissen wir, dass Energie nicht verbraucht
wird, sondern nur umgewandelt. Was nicht
verbraucht wird, kann auch nicht erneuert werden.
Bestenfalls wieder zurück verwandelt. Daher sollte
auf den Singular verzichtet werden im allgemeinen
Energiendiskurs.
"Energieträger" und "Energiequelle" werden
üblicherweise synonym gebraucht. Der Unterschied
zwischen den beiden Begriffsinhalten, sofern man
einen machen möchte, ist ein perspektivischer.
Holz oder die Wärmestrahlung eines Feuers sind
bilanzierfähige Einheiten als Energieträger.
Energiequelle ist das Holzfeuer als System der
Umwandlung von Energie, um sie verfügbar zu
machen.
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Erneuerbar oder konventionell? Neu oder alt?
Konventionell und fossil?
Zu "erneuerbar" im
Energiebereich gibt es zwei Gegenbegriffe,
"konventionell" und "fossil". Wobei der Begriff
"konventionell" nicht wirklich brauchbar ist. Denn
Holz wird eindeutig den "erneuerbaren" Energien
zugeschlagen, ist aber einer der ältesten und
sicherlich "konventionellsten" Energieträger der
Menschheit. Im Kontext der Klimaerwärmungs- und CO2-Debatte
ist die Entgegensetzung "erneuerbar" versus
"fossil" die sinnvollste.
Als fossile Brennstoffe, Energieträger werden
Kohle, Erdöl und Erdgas bezeichnet. Auch Torf
zählt zu dieser Kategorie, besitzt allerdings in
unseren Breiten keine entsprechende Bedeutung. In
weiterem Sinne gehört auch Uran als Energieträger
in Kernkraftwerken dazu. Das in unserem Kontext
bestimmende gemeinsame Kennzeichen ist die
Begrenztheit als Ressource, das absehbare Ende der
entsprechenden Vorräte auf unserem Planeten. Der
Wortsinn von "fossil", das "ausgegraben" bedeutet,
verweist uns darauf, dass diese Brennstoffe in
erdgeschichtlich frühen Zeiten entstanden und auf
uns als Relikte dieser Zeiten überkommen sind.
Gelegentlich erscheint auch das Gegensatzpaar
"neu" versus "alt". Seiner Allgemeinheit und
Inhaltsleere wegen wird es eher in rhetorischen
Verwendungen eingesetzt. Inhaltlich belastbar ist
es nicht. Denn was ist an der Nutzung der
Windenergie "neu"? Segelboote gab es schon in
prähistorischen Zeiten, Windmühlen prägten die
Barockzeit. Neu ist lediglich der Einsatz von
Windkraft zur Stromgewinnung. Ähnliches gilt für
die Wasserkraftnutzung und schon gar für die
Holznutzung. Selbst die gezielte Nutzung der
Sonnenenergie kennen wir aus Gewächshäusern oder
von den blechernen Warmwasserbehältern, gerne
schwarz angemalt, auf Dächern in Südeuropa schon
seit langem.
Dass fossile Brennstoffe konventionell seien im
Unterschied zu den alternativen, neuen
Brennstoffen der Energiewende, ist somit wenig
sinnvoll als Klärungshilfe. Es gilt dies nur, wenn
wir ausdrücklich die Stromerzeugung in den Blick
nehmen. Diese Klarheit geht jedoch durch die
PR-Arbeit der Forstwirtschaft verloren, die uns
immer wieder Holz als die erneuerbare Energie
schlechthin vorstellen möchte. Dabei denkt niemand
daran, Holz zur Stromerzeugung einzusetzen.
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Regenerativ und alternativ
Häufig verwendete
Synonyme für "erneuerbar" sind "regenerativ" und
"alternativ", wobei nur "regenerativ" das Zeug
dazu hat, das etwas dröge "erneuerbar" zu
verdrängen. Die Politik und die Handwerkskammern
dürften dies allerdings absehbar durch ihren
Sprachgebrauch verhindern. "Erneuerbar" klingt
eben auch nach Wirtschaftsaufschwung,
Folgeaufträgen für die Erneuerung von Kollektoren
auf dem Dach, Styropor auf der Fassade und
Mineralwolle unterm Dach. Während "regenerativ"
doch eher nach einer Eigentätigkeit des
Naturprozesses klingt, die das Bruttosozialprodukt
nicht voran bringt.
Der Begriff "regenerativ" benennt die Eigenheit
der gemeinten Energieträger bzw. Energiequellen
noch am exaktesten und ist sinnvoll für beide
Bereiche einzusetzen, während die Anwendung der
gängigen Kategorie "erneuerbar" auf die
Sonnenenergie etwas pausbäckig klingt. Wenn ich
dennoch "erneuerbar" für den Titel meiner Webseite
verwende, dann als Anpassung an den
Sprachgebrauch, der auf "erneuerbar" eingeschworen
ist.
Der Begriff "alternativ" transportiert am
deutlichsten die inzwischen nur noch wenig
präsente politische Dimension der Energiewende,
die sich explizit gegen die Atomenergienutzung
wandte. Dass dieser Bezug aus dem Blick geraten
ist, liegt unter anderem daran, dass mit der
CO2-Debatte die Frontstellung der erneuerbaren
Energien gegen Kohle und Erdöl in den Vordergrund
rückte. Eine interessante Pointe dabei ist, dass
die Atomenergie von politischer Seite schon früh,
vor allem in Großbritannien, mit dem Hinweis auf
den schädlichen CO2-Ausstoß von Kohlekraftwerken
protegiert wurde.
Weitere Begriffsalternativen sind "klimaneutral"
und "sauber". Diese beiden Begriffe finden sich
häufig in stark ideologisch aufgeladenen Kontexten
und werden den komplexen Sachverhalten, die mit
Energieproduktion und Energieverbrauch verbunden
sind, nicht gerecht. Holzheizungen sind sehr oft
keineswegs "sauber" und "klimaneutral" enthält
eine Fülle nicht explizierter und teilweise
(aufgrund unzureichender Datenerfassung und
Theoriebildung) auch nicht explizierbarer
Voraussetzungen. Die Konstitutionsbedingungen von
Klima sind in ihrer Komplexität längst nicht
hinreichend bekannt und "Klimaneutralität" häufig
nur höchst problematisch berechnet. Ein
"klimaneutraler" Flug, dessen CO2-Ausstoss etwa
durch Baumpflanzungen kompensiert werde, ist
zumeist nicht mehr als eine PR-Maßnahme. Häufig
sind die Pflanzmaßnahmen aus anderen Gründen
ohnedies notwendig oder sinnvoll, erfolgen an
Orte, wo zuvor gerodet wurde etc. pp. Das beim
Flug ausgestoßene CO2 befindet sich in hohen
Luftschichten, die "Kompensation" erfolgt am
Boden. Zudem sind Flüge auch unabhängig vom
CO2-Ausstoß problematisch für die Umwelt.
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Natur
"Natur" ist
sicherlich eines der komplexesten und
umstrittensten Konzepte der Kulturgeschichte.
Seine Verwendung geschieht oft in unklar
ideologisierten Kontexten und mit normativen
Ansprüchen. Wenn "die Natur" geschützt werden
soll, kann es sich um das Biotop einer
geschützten Art handeln, die in scharfer
Konkurrenz zu anderen Arten steht, die am
gleichen Standort vorkommen, aber weniger
schützenswert sind, gemessen am
Bedrohungsstatus. Es kann aber auch um den
Erhalt eines Naherholungsgebietes für Jogger,
Mountainbiker und Hundeausführer gehen oder um
die Interessen von Häuslebauer, die keine
Windkraftanlage in ihrer Nähe haben wollen. Oder
um ein Jagdrevier, das die Pächter gerne für
sich ganz alleine haben möchten. Es kann sich um
eine vermeintliche "Wildnis", also in der Regel
die Sukzession in einer nutzungsfrei gewordenen
Kulturlandschaft, oder eine pflegerisch
erhaltene ehemalige Beweidungswiese handeln, um
einen Fichtenforst oder ein renaturiertes
ehemaliges Kohlerevier. Es kann sich aber auch
um naturidentische Geschmacksstoffe oder
Naturkosmetik aus dem Chemielabor handeln. Wer
"die Natur" liebt, liebt in der Regel nicht die
Ameisen, Spinnen oder Stechmücken auf seiner
Terrasse, hält meist auch wenig von Dauerregen,
sieht Massenvorkommen von Marienkäfern auf
seinem Balkon eher ungern und mag Unkraut in
seinem Garten häufig überhaupt nicht. Geradezu
abenteuerlich wird die Begriffsverwendung bei
Personalisierungen im Stil von "die Natur wehrt
sich" oder "die Natur schlägt zurück". Auch wenn
solche Redeweisen inzwischen durch die
"Gaia-Hypothese" James Lovelocks gleichsam
wissenschaftliche Weihen erhalten haben.
Begriffsgeschichtlich verweist das lateinische
Wort "natura" auf "nasci", "geboren werden". Es
handelt sich dabei um die Übersetzung des
griechischen Wortes "physis", das zunächst
"Geburt", "Herkunft" bedeutete. Das
Grundlagenwerk zur antiken Naturwissenschaft des
Aristoteles heißt "Physis". Buch II beginnt mit
dem bekannten Satz "Vom Seienden (onton) ist
manches von Natur aus (physei), anderes aus
anderen Ursachen (aitias), von Natur aus die
Tiere und ihre Teile, die Pflanzen und die
einfachen Körper, wie Erde, Feuer, Luft und
Wasser." Dem stellt Aristoteles Bett (kline) und
Gewand (imation) gegenüber, welche künstlich,
durch Technik geschaffen seien (apo technes).
Im Kommentar des Averroes (Ibn Ruschd,
1126-1198) zur Aristoteles-Schrift "Peri
ouranou" findet sich erstmals die Unterscheidung
in "natura naturata" und "natura naturans", die
für die nachfolgenden philosophischen Systeme
dann von herausragender Bedeutung wurde. Die
"natura naturans" geriet dabei weitgehend
identisch mit dem Schöpfergott der Bibel -
allerdings als fortdauerndes Wirkprinzip. Die
"natura naturata" umfasste alles naturhaft
Vorhandene. Spinoza entwirft die "natura
naturata" dann zweigesichtig, in den Modi des
Denkens und der Ausdehnung. Im Deutschen
Idealismus, naturphilosophisch wirkmächtig
insbesondere durch Schelling, wird die
Unterscheidung systematisch aufgehoben,
besonders deutlich bei Fichte ins
Anthropozentrische gewendet. Die Differenz
Spinoza-Schelling/Fichte markiert zwei bis heute
den ökologisch rücksichtsvoll sich verstehenden
Umgang mit Natur prägende Grundhaltungen: Natur
als zu bewahrende Wildnis mit eigenständiger und
eigenrechtlicher Subjektivität versus Natur als
durch menschliche Technik für den Menschen zu
bewahrendes Schutzgut.
Bernhard Gill unterscheidet in "Streitfall
Natur. Weltbilder in Technik- und
Umweltkonfikten" 2003 drei Diskurstypen, den
identitätsorientierten (Mensch als Teil der
Natur), den utilitätsorientierten (Natur als
Verfügungsmasse des Menschen) und den
alteritätsorientierten (Natur mit Eigenrecht)
Naturdiskurs. Wir können von ihm lernen, bei
Gesprächen über Natur uns stets zu vergewissern,
ob wir im gleichen Diskurstyp operieren.
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Technik
Martina Heßler
beginnt ihre "Kulturgeschichte der Technik"
(Campus Verlag 2012) mit der Frage des
nordamerikanischen Technikphilosophen Don Ihde
von 1979 nach einem Paradies ohne Technik. Ihde
kam damals zu der wenig bemerkenswerten
Einsicht, dass ein Paradies ohne Technik nicht
unseren gängigen Vorstellungen paradiesischer
Zustände entspreche, da es weder Schreib- noch
Malwerkzeuge, weder Nähzeug noch Scheren, weder
Kochtöpfe noch Herd gäbe. Heßler verweist damit
auf die erhebliche Unklarheit im Umgang mit dem
Konzept "Technik". Ist ein Faustkeil schon
"Technik"? Ist eine Krähe technikkundig, wenn
sie sich ein Stöckchen besorgt, um eine
nahrhafte Made aus einem Rohr zu schieben?
In der "Theogonie" Hesiods, der wir unser Wissen
über die griechische Götterwelt und Mythologie
weitgehend verdanken, werden den Göttern nach
Herodot ihre "technai" zugewiesen (Herodot,
Historien, 2. Buch, 53. Kapitel), laut Klaus
Heinrich "Zivilisation befördernde (...)
Kunstfertigkeiten, Produktionsformen und
Technologien" (Heinrich 2007, Dahlemer
Vorlesungen. Gesellschaftlich vermitteltes
Naturverhältnis, S. 84). Dieser Begriff von
"technai" bestimmt auch die Aristotelische
"Physis" und über diese den Technikbegriff der
westlichen Zivilisationen bis ins 18.
Jahrhundert hinein. Nochmals aktiviert wurde
dieser Begriff im 20. Jahrhundert von Martin
Heidegger gegen das, was dieser als "moderne
Technik" kritisierte, die nicht analog zur Natur
schaffe, sondern diese "herausfordere" und
instrumentalisiere, zum bloßen "Material" mache,
was auch auf den Menschen ausgreife, der zum
"Menschenmaterial" werde.>
Bei Sophokles finden wir in der "Antigone", im
Lied des Chores über die Macht des Menschen die
listigen Künste des aufrührerischen Menschen als
"mechanoen technas". Bei Aristoteles wird
"techne" explizit Gegenbegriff zu "physis".
Durch Technik ("apo technes") Geschaffenes
stellt er in Buch II seiner "Physis" dem von
Natur aus Seienden ("ton onton ta men esti
physei") entgegen. Als Beispiele wählt er
"Bett/kline" und "Gewand/imation" - also
Gegenstände, die menschengeschaffen und dem
Menschen sehr nahe sind.
Sprachgeschichtlich, aber auch konzeptionell
bemerkenswert an der gemeinsamen
Begriffsgeschichte von "Technik" und "Natur"
ist, dass wir im Deutschen in "Technik" die
griechische Wortwurzel (techne, lat. ars)
erhalten haben, in "Natur" die lateinische
(natura, gr. physis). Das jeweilige Analogon der
anderen antiken Sprache ist bewahrt in aktuellen
Begriffen, die in ihren Konnotationen das
schiere Gegenteil der ursprünglichen Bedeutung
enthalten: Die der Technik am nächsten stehende
Naturwissenschaft trägt den Titel "Physik", die
den naturhaften Schöpfungsgedanken am
unmittelbarsten aufgreifenden Tätigkeitsfelder
der - zumindest im Gemeinverständnis -
zweckfreien Künste sind "Artisten" vorbehalten.
Dies gilt analog für alle germanischen und
romanischen Sprachen, auch wenn die anglophone
Sprachwelt am Künstlersein das
Handwerklich-Technische stärker betont.
Angesichts von Gentechnik, Geoengineering,
virtuellen Welten und immer komplexer werdenden
Mensch-Maschine-Interaktionen wird es allerdings
zunehmend schwierig, die Begriffswelten von
Natur und Technik sinnvoll zu unterscheiden. Das
Konzept der Nachhaltigkeit übernimmt hier
teilweise bereits die Funktion eines
Vermittlungsbegriffs, mit der Gefahr des
ideologischen Missbrauchs. Es steht damit auch
in der Tradition des Begriffsfeldes "Ökologie".
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Und was hat ein Pfirsichbaum damit zu tun?
Ein Pfirsichbaum mit
intensivgrünem Laub und zahlreichen reifen
Früchten im Sonnenuntergang, mit Blitzlicht
fotografiert: Dieses Bild habe ich gewählt als
Bildzeichen für meine Seite zu erneuerbaren
Energien. Die Wahl geschah "aus dem Bauch heraus"
und hat sicherlich auch damit zu tun, dass ich zu
diesem Pfirsichbaum, der auf meiner Olivenwiese
steht, eine besondere Verbindung habe. Er stammt
vom Grundstück eines Freundes, der sich ganz einer
umweltverträglichen Lebensweise verschrieben hat.
Die Pflege des Baumes kostet mich viel Zeit, da
die Kräuselkrankheit ebenso wie die Blattläuse ihn
bevorzugt heimsuchen. Er erfreut aber auch durch
regelmäßige hohe Fruchtbarkeit. Die Früchte werden
dann gerne von Spaziergängern geerntet - was so
nicht vorgesehen ist. Ein Bild für das, was auf
unserem Planeten leider im großen Maßstab zu oft
geschieht: Die einen pflegen, die anderen ernten.
Und aktuell findet eine Vermögenskonzentration in
den Händen einer kleinen Elite statt, die an die
Zeiten des feudalen Absolutismus oder der
Gründerzeit um 1900 erinnert. Schlechte
Voraussetzungen für die Gestaltung einer
nachhaltigen Gesellschaft.
Dem stelle ich mit dem Pfirsichbaum das Bild einer
Kultur entgegen, die in Kooperation mit der Natur
arbeitet und eine Fülle produziert, die allen
zugute kommt, aber auch von allen gemeinsam
getragen wird - mit einer Allmend, die ihrem
Dilemma entkommt. Pflanzen allgemein,
symbolträchtig vor allem ihre Früchte, verweisen
uns darüber hinaus auf die existentielle
Wichtigkeit der Sonne als Energiespender. Der
Pfirsichbaum speziell gilt in China als Symbol für
Unsterblichkeit, für das ewige Fortdauern der
Lebensprozesse. Die Gesundheitswirkungen von
Pfirsichen sind umfassend. Aber Pfirsichbäume sind
auch besonders empfindlich gegenüber
Umweltschädigungen und Krankheiten. Sie benötigen
gärtnerische Aufmerksamkeit.
Die Früchte des Pfirsichbaums stehen nicht nur für
die unerschöpflichen Ressourcen des solaren
Energiesystems, sondern auch für die
Transformationskraft der Naturprozesse. Die
Schönheit, die Nahrhaftigkeit und der
geschmackliche Reichtum des Pfirsichs verdanken
sich letztlich "nur" Erde, Wasser und Sonne. Der
Pfirsichbaum ist ein starkes Symbol für eine
nachhaltige Ökonomie der Zukunft und für die
Potentiale erneuerbarer Energien. Und er erinnnert
daran, dass Nachhaltigkeit im Naturprozess immer
auch Verschwendung und Überfluss bedeutet -
Überfluss und Reichtum an Früchten und Samen, die
dem Zyklus wieder zugeführt werden.
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Wasserstoff
Am Anfang war der
Wasserstoff ...
Ich möchte mit dem Anklang an die Bibel nicht so
weit gehen wie Hoimar von Ditfurth im Titel seiner
Publikation "Im Anfang war der Wasserstoff" von
1972. Inhaltlich schließe ich jedoch wie er an die
Erkenntnis an, dass zu den ersten nach dem
"Urknall" entstandenen Elementen der Wasserstoff
gehörte, ein Stoff von ganz besonderer Bedeutung.
Wasserstoff, schlicht H im chemischen
Periodensystem genannt, nach lateinisch
"hydrogenium", ist das am einfachsten aufgebaute
uns bekannte Element. Es besteht nach dem
Bohrschen Atommodell aus einem Proton und bis zu
zwei Neutronen im Atomkern und einem Elektron.
Energetisch trat der Wasserstoff zunächst in
Wasserstoffbomben vor das Publikum, erstmals wurde
1952 auf einem Atoll der Marshallinseln von den
USA eine Wasserstoffbombe gezündet. Die stärkste
jemals von Menschen verursachte Explosion
produzierte eine Wasserstoffbombe der UdSSR, 1961
auf Nowaja Semlja gezündet, gebaut von einem Team
um Andrej Sacharow. Seit den 60er Jahren wird
Wasserstoff als Treibstoff der Raumfahrt
eingesetzt und in Brennstoffzellen für die
Stromproduktion im All. Und seit den 80er Jahren
bemüht sich die Energieindustrie um die
Entwicklung einer "Wasserstoffwirtschaft" mit dem
Wasserstoff als Energieträger. Nennenswert
entwickelt ist bislang nur der Einsatz von
Wasserstoff im Brennstoffzellenantrieb für PKW .
Die kleinen, leichten, leisen, charmanten
Elektoautos haben allerdings den Wasserstoffautos
den Rang abgelaufen im Bemühen um "alternative"
Antriebssysteme. Dabei laufen auch die mit
Wasserstoff-Brennzellen betriebenen Autos mit
Elektromotoren - doch den Strom dazu produzieren
sie selbst. Und das braucht Platz und bringt
Gewicht. Und kostet Geld. Der erste
wasserstoffbetriebene Serienwagen, der Hyundai iX
35 Fuel Cell, 2015 auf den Markt gekommen, kostet
im Jahr 2016 etwa 65.000 Euro in der Basisversion.
Es fehlt an der Tankstelleninfrastruktur, am
Typenangebot und an Käufern. Und für eine
vorteilhafte Ökobilanz mangelt es an einer
umweltfreundlichen Produktion des Betriebsstoffes,
Wasserstoff. Diese könnte realisiert werden, wenn
überschüssiger Strom aus der schwankenden
Produktion von Wind- und Solaranlagen dazu genutzt
wird, Wasserstoff zu isolieren.
Dabei bleibt die Frage, ob dies in der
gesellschaftlichen Gesamtrechnung Sinn macht. Es
wird eine weitere Industrie aufgebaut, die
Abhängigkeiten, Risiken und Kosten produziert,
denen - im Blick auf den Autoverkehr - kein
erkennbarer besonderer Nutzen im Vergleich mit
batteriebetriebenen PKW gegenübersteht (anders
sieht es im Blick auf Autobusse, LKW, Lokomotiven
oder Schiffe aus). Mit dem Wasserdampfausstoß
dieser Fahrzeuge wird massiv in den
Feuchtigkeitshaushalt von Ballungsgebieten des
Verkehrs eingegriffen. Ein wasserstoffbetriebener
Automotor mit 100 PS produziert bei Volllast in
einer Stunde 12 Liter Wasser - gegenüber 5 Liter
Oxidationswasser bei Benzin-/Dieselantrieb.
Allerdings würde eine Umstellung des gesamten
Autoverkehrs auf Wasserstoffantrieb den
Wasserdampfanteil in der Luft allgemein gegenüber
natürlicher Verdunstung lediglich um 0,03% erhöhen
- nach einer Rechnung für Österreich, erstellt vom
österreichischen Umweltbundesamt. Die
Wasserdampfbildung bei der Produktion des
Treibstoffs ist dabei allerdings nicht
eingerechnet.
Der Wasserdampfausstoß einer Wasserstoffindustrie
birgt globale Risiken. Wasserdampf ist ein
wirksameres Treibhausgas als CO2 - hat allerdings
den Vorteil, sich regelmäßig zu reduzieren durch
Wolkenbildung und Regen. Welchen Einfluss eine
Wasserstoffindustrie auf das Klima hätte, wird
aktuell erforscht. Nachhaltig ist eine solche
Industrie per se nicht, denn für die Produktion
des Treibstoffs Wasserstoff wird mehr Energie
benötigt, als der Treibstoff selbst zur Verfügung
stellt. Aktuell etwa drei mal so viel!
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Photonen
Und es wurde Licht
...
Mit dem Licht beginnt die Gestaltung der Schöpfung
im biblischen Mythos der Genesis. Licht, konkret
Sonnenlicht, ermöglichte erst die Entwicklung des
höheren Lebens auf unserem Planeten. Letztlich
hängen fast alle energetischen Prozesse auf
unserem Planeten von der Sonnenenergie ab - so
sind Kohle, Erdgas und Erdöl letztlich zu einem
wesentlichen Anteil gespeicherte, umgewandelte
Sonnenenergie. Wichtige Ausnahmen von der
allgemeinen solaren Abhängigkeit der
Energiequellen auf unserem Planeten sind die
gravitationsbedingten Prozesse, die Geothermie,
unbelebt chemische Prozesse und die Kernspaltung.
In der Physik des 19. Jahrhunderts gab es sowohl
Belege für die Wellennatur des Lichtes
(Interferenz und Polarisation) als auch für den
Teilchencharakter (photoelektischer Effekt). 1905
formulierte Albert Einstein in seiner Publikation
"Über einen die Erzeugung und Verwandlung des
Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt"
die Hypothese von der Quantennatur des Lichtes,
basierend auf den Arbeiten von Max Planck und
Heinrich Hertz. Ab 1925 wurde die Quantentheorie
des Lichtes formal entwickelt. Nach dieser Theorie
besteht Licht (als ein Fall elektromagnetischer
Strahlung) aus einzelnen Energiepackungen,
Quanten. Das Quant des elektromagnetischen Feldes
ist das Photon, nach der Benennung durch Einstein.
Das Photon, wie alle anderen Quanten auch, hat je
nach Untersuchungsbedingungen Teilchen- oder
Wellencharakter.
In der Photosynthese wird das Photon zum
entscheidenden Motor der Lebensentwicklung.
Chlorophyll absorbiert die Energie der auf die
Pflanze treffenden Photonen und stellt sie den
Chloroplasten für die Kohlehydratproduktion zur
Verfügung. Dabei wird das Photon materiell
gebunden. Bei einem Sonnenbad prasseln ca. 10
Billiarden Photonen pro Sekunde auf einen
Quadratzentimeter Haut. Für ihren Weg von der
Sonne zur Erde benötigen sie etwa acht Minuten -
für den Weg vom Reaktor im Innern der Sonne zur
Oberfläche mehrere tausend Jahre (genannt werden
100.000).
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Methan
Mit der Pflanzenwelt
kam das Sumpfgas als Zerfallsprodukt. Methan war
den Alchimisten des Mittelalters bereits bekannt
als "Sumpfluft". Für die Neuzeit entdeckt wurde
Methan als Brennstoff im November 1776 durch den
italienischen Physiker Alessandro Giuseppe Volta
(nach ihm ist die Messeinheit für die elektrische
Spannung benannt). Er sammelte in der Uferzone des
Lago Maggiore das aus dem Untergrund aufsteigende
Gas in einem Glasgefäß. Zuhause im Labor
verbrannte er das Gas und setzte es in seiner
Volta-Pistole ein (einer Weiterentwicklung aus dem
Eudiometer), die als Vorläufer des Gasfeuerzeugs
gelten kann.
Methan (CH4) entsteht bei der Zersetzung von
Biomasse. Die methanbildenden Bakterien gehören zu
den ältesten bekannten Mikroorganismen und werden
den Archaebakterien zugeordnet. Ihr Stoffwechsel
verläuft anaerob. Was wir heute als Erdgas
verbrauchen, ist in erdgeschichtlich 20 Millionen
Jahre und weiter zurückliegenden Zeiten bei der
Verrottung von Biomasse, vorwiegend Algen,
entstanden.
Natürliche Quellen für aktuell entstehendes Methan
sind Sümpfe ("Sumpfgas") und die Mägen von
Wiederkäuern. Eine heutige Hochleistungskuh gibt
pro Tag ca. 400 Liter Methan an die Umgebungsluft
ab (es gibt unterschiedliche Zahlenangaben,
zwischen 200 und 500 Liter). Bei einem
Jahresbedarf von ca. 690.000 cbm Methan für eine
Biogasanlage mit 500 kW Leistung werden so ca.
5.000 Kühe für eine Anlage benötigt. Die 12,5
Millionen Kühe in Deutschland könnten mit ihrem
Methanausstoß ca. 2.500 Biogasanlagen mit 500 kW
installierter Leistung unterhalten. Zum Vergleich:
Aktuell sind in Deutschland ca. 9.000
Biogasanlagen mit einer durchschnittlichen
Leistung von ca. 500 kW in Betrieb. Ein Kilogramm
Frischgras kann ca. 86 Liter Methan ermöglichen.  Die Dichte
von Methan beträgt 0,72 Gramm/Liter bei 20 Grad C.
Da Methan den Treibhauseffekt 25 mal stärker
verschärft als CO2 gibt es schon Bemühungen, den
Methanausstoß von Kühen zu verringern. Der
effektivste Weg wäre sicherlich, unseren Konsum an
Milchprodukten zu reduzieren (Methansteuer auf
Milchprodukte?) und auf Qualität statt Milchmassen
zu setzen, von denen regelmäßig der Überschuss
vernichtet oder mit absurdem Aufwand gelagert
werden muss. Auch der Fleischkonsum muss reduziert
werden - was nicht zuletzt der Gesundheit hilft.
Stattdessen wird von Wissenschaftlern
vorgeschlagen, Kühe von Grasernährung auf
Maisernährung umzustellen - letztlich also auch:
Kühe von den Wiesen zu nehmen! Eine abstruse
Forderung, die nur der industriellen Viehhaltung
und der Maisindustrie hilft. In der Bilanz ist die
Maisernährung klimaschädlicher als die
Grasernährung. Im übrigen werden die meisten Kühe
in Deutschland ohnedies bereits jetzt zu einem
Teil mit Mais ernährt - "Kraftfutter", um die
erwartete Hochleistung zu erbringen.
Es kann inzwischen als gesichert gelten, dass
Pflanzen auch in ihren Lebensprozessen, nicht nur
beim Zerfall, Methan erzeugen. Zwei Heidelberger
Forscher, Frank Keppler und Thomas Röckmann, haben
dies 2005 gegen die bisherige Lehrmeinung entdeckt
und 2014 den dahinter stehenden Prozess
entschlüsselt, an welchem maßgeblich die
Aminosäure Methionin beteiligt ist. 10-30% der
weltweiten Methanemissionen könnten so verursacht
sein. Für die Klimadebatte ergeben sich daraus
noch nicht absehbare Konsequenzen. Unter anderem
dürfte die Ökobilanz von Biogasanlagen mit
Maisanbau noch weiter ins Minus gehen.
Methan könnte im 21. Jahrhundert zu einem der
wichtigsten erneuerbaren Energieträger werden.
Jede Haustoilette könnte zu einem Kraftwerk werden
für den Eigenbedarf. In Indien gibt es
Biogas-Toiletten bereits seit langem. Der
Soziologe Bindeshwar Pathak hat 1970 seinen
Prototypen einer Zwei-Gruben-Anlage gebaut, zur
Verbesserung der Hygiene und zur Methanerzeugung
für Beleuchtung und Kochen. Inzwischen wird sein
Verfahren weltweit genutzt. Ein
technisch weiter entwickeltes Modellprojekt ist
auf der Jenfelder Au in Hamburg geplant (Stand
2016). Ein Wohnprojekt mit 600 Wohneinheiten soll
zu 50% mit Strom aus der Methanproduktion der
eigenen Toiletten versorgt werden. Bedeutsamer
dürfte allerdings auch künftig (wie schon jetzt
bei den bestehenden Biogasanlagen) die
Methanbildung aus pflanzlichen Materialen sein.
Die bestehende Infrastruktur aus Kanalisation und
Kläranlagen (oft bereits mit Methangewinnung
ausgerüstet) spricht ebenso dafür wie moderne
kulturell-zivilisatorische Vorbehalte gegen die
Nutzung menschlicher Fäkalien.
Methan wird diskutiert als Puffer für
überschüssigen Strom - allerdings mit einem
Wirkungsgrad von lediglich 30%. Eine Arbeitsgruppe
um den Chemiker und Nanotechnologieforscher K.
Christian Kemp hat an der Pohang-Universität
Südkorea 2015 aufbereiteten Kaffeesatz als
wirkungsvollen Methanspeicher entdeckt. Vielleicht
werden Kühe bald Windeln mit Kaffeesatzfüllung um
Maul und After tragen ...
Hoch problematisch ist der sich abzeichnende
Methan-/Erdgasboom, wo er auf Fracking und anderen
risikoreichen Technologien zur Erschließung wenig
zugänglicher Vorkommen - etwa im Meeresboden, vor
allem der Arktis - basiert. Mit den Risiken
verbunden ist lediglich ein dürftiger Aufschub der
Versorgungsprobleme - die in der Arktis vermuteten
Gasvorkommen könnten den Weltbedarf gerade einmal
sieben Jahre decken.
Methan ist bereits jetzt eine massive Bedrohung
für die Klimaregulation des Planeten. Die
Zuchttierbestände zur Befriedigung des
Fleischkonsums wohlhabender Länder stoßen
zunehmend Methan aus (aktuell etwa dreimal so viel
wie die Reisfelder der Welt), tauende Frostböden
im Norden geben Methan frei, etwa in Skandinavien
und dem nordöstlichen Russland. Ferner können
Temperatur- und Druckverschiebungen in Meeren und
Seen gleichfalls erhebliche Mengen an Methan aus
Methanhydraten freisetzen. Das Thema Methanhydrate
hat Frank Schätzing in seinem Bestseller "Der
Schwarm" bereits spektakulär bearbeitet.
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Energietransformation, Energiespeicherung
Energie
zeichnet sich unter anderem durch eine enorme
Transformierbarkeit aus. Jede Energieform lässt
sich mit geeigneten Apparaten oder Maschinen in
eine andere Form überführen. Die elektrische
Energie zeichnet sich dabei aus durch ihre im
Vergleich der Energien einfache Verfügbarkeit. Sie
lässt sich auch mit vertretbarem Aufwand speichern
und transportieren. Allerdings gehen bei der
Verwandlung anderer Energieformen in elektrische
Energie und bei ihrer Speicherung erhebliche
Energieanteile der menschlichen Nutzung verloren.
Dennoch kommt der elektrischen Energie heute der
Status einer gemeinsamen Währung auf dem Markt der
Energien zu.
Wird die Energie aus Biomasse in Strom verwandelt,
gehen 60-70% der Energie als Wärme verloren, wenn
keine Nutzung dieser Wärme erreicht werden kann,
etwa in Nah- oder Fernwärmenetzen. Hier können
neue technische Entwicklungen zu einer höheren
Effizienz führen. Im ORC-Verfahren ("Organic
Rankine Cycle") werden organische Lösungsmittel
zur Dampferzeugung für die Stromturbinen
eingesetzt, die schon bei ca. 80 Grad verdampfen.
Ein weiterer Effizienzgewinn kann durch
thermoelektrische Generatoren erreicht werden, die
bei noch geringeren Temperaturen Stromerzeugung
leisten über den "Seebeck-Effekt", Stromfluss bei
Temperaturgefälle in Metallen.
Die wirtschaftlich sinnvolle Speicherung großer
Mengen an Strom bereitet nach wie vor Probleme.
Verfolgt werden aktuell vor allem zwei Wege: Die
direkte Speicherung in vielen dezentralen
Verbrauchseinheiten mit eigenem Speicher, vor
allem Solarfahrzeugen - denkbar ist auch eine
Neubelebung der "Nachtstromheizungen". Die
indirekte Speicherung in Pumpspeichern von
Wasserkraftwerken ist eine weitere Option.
Als neue - oder zumindest zweite - "Leitwährung"
neben Strom könnte sich auch Methan etablieren. So
kann überschüssiger Strom auf dem Umweg über die
elektrolytische Erzeugung von Wasserstoff, der
sich mit Kohlendioxyd verbindet
(Sabatier-Prozess), Methan produzieren, das ins
Gasnetz eingespeist werden kann ("Power to Gas").
Allerdings geht dabei viel Energie verloren,
alleine bei der Wasserstoffproduktion mit Strom
70%. Dass Methan zu einer "Leitwährung" auf dem
Energiemarkt wird, scheitert vorläufig auch daran,
dass die etablierten Strukturen der
Biogaserzeugung und -verwertung in
landwirtschaftlichen Kleinanlagen weitgehend auf
Strom als Zielprodukt eingestellt sind.
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Abschied vom fossilen Zeitalter
Nach der Mahnung zu den "Grenzen des
Wachstums" von 1972 (Meadows, Meadows, Randers,
Behrens) hat der Umwelthistoriker Rolf Peter
Sieferle mehrere Studien vorgelegt, die den
metabolischen Systemen verschiedener
menschlicher Gesellschaftsformationen gelten.
Sieferle unterscheidet zwischen Jäger- und
Sammlergesellschaften, Agrargesellschaften und
Industriegesellschaften. Die ersten beiden
Gesellschaftstypen basieren auf solaren
Energieflüssen, mit indirekter oder vermittelter
Umweltkontrolle, der dritte ist bestimmt durch
die exorbitante Nutzung fossiler Ressourcen bei
direkter Umweltkontrolle. Sieferle nennt dieses
dritte System "Transformationssystem", denn im
Unterschied zu den beiden anderen ist es
strukturell nicht-nachhaltig, kann auf Dauer
nicht aufrechterhalten werden und muss aus
Einsicht oder Notwendigkeit ersetzt werden.
Diese Auffassung wird von Ökologen, Ökonomen und
Teilen der politischen Eliten weitgehend
geteilt. Der radikal abnehmende Grenznutzen des
fossil basierten Energie- und
Wirtschaftssystems, die absehbare Erschöpfung
fossiler Ressourcen, das Deponieproblem sowie
unkalkulierbare "Nebenwirkungen" des fossilen
Systems wie der "Klimawandel" machen eine
Modifikation nach politischem, ethischem und
wissenschaftlichem Konsens unabdingbar. Strittig
ist aktuell lediglich das Maß der Modifikation
im Spektrum zwischen Reduktion bis hin zur
völligen Abkehr. Und strittig sind auch die
Alternativen, auf der einen Seite der Extreme
radikaler Konsumverzicht und ausschließliche
Nutzung sanfter erneuerbarer Energien, auf der
anderen der forcierte Einsatz der Kernenergie
(Russland etwa setzt auf den Schnellen Brüter).
Selbst eine völlige Abkehr von der
gesellschaftlichen Nutzung fossiler
Energieträger könnte allerdings den Verbrauch
fossiler Ressourcen nicht vollständig stoppen.
Es würden weiterhin Kohlenflöze in China und
anderswo brennend und glusen, Methan ungenutzt
aus der Erde entweichen und Erdöl aus
submaritimen Quellen ins Meer fließen.
Allerdings bliebe dies vernachlässigbar, sollte
eine Verständigung auf eine tatsächlich
nachhaltige Energieproduktion und -konsumption
gelingen. Aktuell zeichnet sich jedoch eher ein
macht- und einflusspolitisch ausgetragener
Interessenkampf ab zwischen den Anhängern und
Profiteuren der verschiedenen
Energietechnologien. Dabei ist auch der Einsatz
für erneuerbare Energien erkennbar gesteuert
durch heterogene wirtschaftliche und
ideologische Interessen, etwa bei der
Frontstellung zwischen Windkraftanlagen- und
Biogasanlagen-Nutzung.
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Ambivalenzen des Solarregimes
Rolf Peter Sieferle sieht am Ende
des als "Transformationssystem" von ihm
verstandenen industriellen Systems ein wieder
solar basiertes System sich abzeichnen. Auch
unter vielen Anhängern der "Energiewende" wird
solaren Energieflüssen unbedingte Priorität
eingeräumt. Wobei die "Wende" zum Solarsystem je
nach Diskursformation, politischer Orientierung
und/oder technologischer Kompetenz primär eine
Wende weg von der Atomenergie oder primär eine
Wende weg von fossilen Energien allgemein - von
denen Atomenergie nur einen Sonderfall darstellt
- meint.
Aktuell wird im Diskurs zu erneuerbaren Energien
von Solarenergienutzung nur im Blick auf
Solarkollektoren (Photovoltaik und Solarthermie)
gesprochen. Doch auch die Biomassenutzung ist
entscheidend vom solaren Energiefluss abhängig,
sie wird bei Sieferle den solarmetabolischen
Systemen subsumiert. Wo Biomasse mit Kunstdünger
produziert wird, partizipiert sie allerdings
substantiell auch am fossilen Ressourcenfluss.
Und in der Regel werden die meisten beteiligten
Maschinen und Fahrzeuge mit fossilen Treib- und
Schmierstoffen betrieben. Noch schwieriger wird
eine saubere kategoriale Zuordnung bei der
Windenergienutzung. Aufwindkraftwerke sind
vollständig von der Sonnenenergie abhängig. Doch
auch der "normale" Wind ist von der Sonne
abhängig, entsteht durch Temperatur- und
Druckdifferenzen in Abhängigkeit primär vom
Sonneneinfluss.
In Deutschland wird der partielle Übergang zu
solarer Energienutzung zudem finanziert aus
Erträgen, die mit konventionell erzeugtem Strom
erbracht werden - eine höchst unbefriedigende
Situation, die auf Jahrzehnte festgeschrieben
ist und schon strukturell keinen echten Übergang
zulässt. Die Biomassenutzung zur
Energieerzeugung schafft Risiken für die
Ernährungssicherheit, reduziert schon jetzt
erkennbar biologische Vielfalt und ist in der
Summe ähnlich klimaschädigend wie die Nutzung
fossiler Ressourcen (ungenutzte Abwärme, Einsatz
fossiler Ressourcen für Produktion und
Verarbeitung, Methanausstoß bei Produktion,
Lagerung und Gülleausbringung).
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"Kein Blut für Öl"
Eine verbreitete politische Parole,
die meines Wissens erstmals beim Golfkrieg
1990/91 auftauchte, lautet "Kein Blut für Öl!".
Robert Habeck, 2012-2018 grüner Minister für
Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und
Digitalisierung in Schleswig-Holstein, bezieht
sich in seinem Buch "Wer wagt, beginnt" von 2016
auf diese Parole als Einstieg in sein Kapitel
"Szenarien der Apokalypse - und die Hoffnung,
dass wir sie abwenden können". Er plädiert für
eine "friedenssichernde Energieaußenpolitik" und
vertritt die Auffassung, die Erneuerbaren
Energien - und somit im Idealfall eine
Unabhängigkeit von Öl und anderen fossilen
Energieträgern - könnte ein neues Kapitel
aufschlagen in der "energiepolitischen Erzählung
von Krieg und Frieden" (Habeck 2012, S. 204).
Hier gewinnt der Energiediskurs eine neue
Dimension, die einerseits die Gefahr
ideologischer Überfrachtung zu Lasten
sorgfältiger Argumentation birgt (wer kann schon
gegen etwas sein, wenn es dabei "um Leben oder
Tod" geht), andererseits aber auch im Kontext
der Erneuerbaren Energien die Verengung des
Blickes auf ökologische Zusammenhänge aufbrechen
kann. Eine Parallele gibt es etwa im Bereich der
Agrogentechnik, wo längst klar ist, dass die
Debatte alleine um ökologische und
gesundheitliche Gefahren die relevantere
politisch-ökonomische Dimension verschleiert, in
der es auch um die Kontrolle über die
Lebensmittelproduktion geht und um die
wirtschaftlichen Interessen von Saatgut-,
Dünger- und Pflanzenschutzmittelherstellern, die
zunehmend in den Händen weniger Konglomerate
gebündelt werden.
Die Formel "Kein Blut für Öl" verweist auf den
engen Zusammenhang vieler
politisch-militärischer Konflikte seit dem
Zweiten Weltkrieg mit der Verfügung über die
Ressourcen Erdöl und Erdgas - was unstrittig
ist. Mit der sich abzeichnenden extremen
Verknappung dieser Ressourcen in einigen
Jahrzehnten droht eine Zunahme solcher
Konflikte. Nur mit einer massiven Reduktion der
Bedeutung fossiler Energieträger, so die
Hoffnung Habecks und anderer, könnte dem
begegnet werden.
Hingewiesen sei hier auch darauf, dass der IS
seine Terroraktivitäten weitgehend mit Einnahmen
aus dem Ölgeschäft finanziert. Ohne die extrem
hohe Bedeutung des Energieträgers Öl hätte es
der islamistische Terror erheblich schwerer,
seine Kriegskassen zu füllen.
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"Erfindung" der Nachhaltigkeit
Die Geschichte der
Nachhaltigkeitsidee läßt Ulrich Grober in seinem
materialreichen Buch über "Die Entdeckung der
Nachhaltigkeit" (2010) mit dem Sonnengesang des
Heiligen Franziskus von Assisi (1181/82-1226)
beginnen. Ein weiterer Vordenker ist für ihn
Spinoza (1632-1677) mit seiner Gleichung "deus
sive natura".
Als Schöpfer des heute prägenden
Nachhaltigkeitskonzeptes gilt allerdings ein
sächsischer Förster der Barockzeit und jüngerer
Zeitgenosse Spinozas, Hans Carl von Carlowitz
(1645-1714). Sein Vater und der Vater seiner
Mutter waren Förster, er selbst aber ausgebildet
in Rechts- und Staatswissenschaften. Mit dem Wald
hatte er beruflich dann zu tun als
Kameralist/Kammerrath und Berghauptmann, ab 1711
Oberberghauptmann in Freiberg/Sachsen. Die
Waldwirtschaft war bedeutsam für die Silberminen
am Erzgebirge, denen Carlowitz vorstand. Holz
wurde benötigt als Bau- und Brennmaterial. Sein
heute wieder viel zitiertes Grundlagenwerk von
1713 trägt den Titel "SYLVICULTURA OECONOMICA,
Oder Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige
Anweisung Zur Wilden Baum-Zucht". Die Ökonomie
steht also an der Wiege des
Nachhaltigkeitskonzeptes. Das Anliegen des
Oberberghauptmanns war, "dem allenthalben und
insgemein einreissenden Grossen Holtz-Mangel (...)
zu prospiciren" im Interesse "nothdürfftiger
Versorgung des Hauß- Bau- Brau- Berg- und
Schmeltz-Wesens". Was heute nachhaltige
Waldwirtschaft heißt, nannte er dabei
"immerwährende Holtz-Nutzung" oder "nachhaltende
Nutzung".
Bemerkenswert ist, wie umfassend Carlowitz seine
Forstwirtschaft konzipierte. Dass nicht mehr Wald
geschlagen werden solle, als nachwachse, ist eine
Einsicht, die vor ihm schon etliche Praktiker der
Forstwirtschaft und Kameralisten hatten,
verfolgbar bis zurück ins 16. Jahrhundert. Er
verbindet diese Einsicht jedoch in einer
Gesamtkonzeption mit dem Prinzip der
Naturverjüngung, Überlegungen zum Gesamthaushalt
eines Waldes sowie klar formulierten Ansprüchen an
den Wald, auch die Brennholzbereitstellung für die
arme Bevölkerung zu sichern. Daraus wurde in der
Gegenwart die dreigliedrige Bestimmung von
Nachhaltigkeit, als Ergebnis von ökonomisch,
ökologisch und sozial zukunftsfähigem Handeln.
Nebenbei, was heute nicht mehr so gerne erwähnt
wird, geht Carlowitz in seinem Buch auch darauf
ein, wie Torf als Brennstoff zuhause und für
Schmelzwerke durch Verkohlung genutzt werden
könne. Aus heutiger Sicht ein ganz und gar nicht
"nachhaltiger" Ansatz. Zu erinnern ist auch daran,
dass der sächsische Bergbau nicht nur Wälder,
sondern auch Landschaft insgesamt zerstört und
vergiftet hat, etwa mit den Abgaswolken der
Köhlereien und den Arsen- und Bleifrachten der
Silberbergwerke in Bächen und Flüssen.
Das macht es aus heutiger Sicht zweischneidig,
wenn Carlowitz gelegentlich vom unvergleichlich
heilsamen Grün der Blätter des Waldes schwärmt.
Dieses Schwärmen könnte darauf verweisen, dass
Carlowitz den größten Teil seiner Amtszeit
überwiegend für den Wald zuständig war, während
das "schmutzige" Bergwesen vor allem von seinem
Vorgesetzten bis 1711, Abraham von Schönberg,
bearbeitet wurde. Vergessen wir aber nicht, dass
später auch der Bergbauingenieur und
Salinenassessor Friedrich von Hardenberg
(1772-1801) keinen Widerspruch sah zwischen seiner
Arbeit in den Bergwerken um Freiberg und seiner
romantischen Naturauffassung, die er unter dem
Künstlernamen "Novalis" verbreitete.
Es ist eine bemerkenswerte Pointe der Kultur- und
Technikgeschichte, dass das Zeitalter der fossilen
Energieträger unmittelbar auf die erste Ausfaltung
des Nachhaltigkeitskonzeptes im Forstbereich
folgte. Der Grund liegt auf der Hand: Weder die
Energiedichte, noch die Verfügbarkeit von Holz
waren dem im 18. Jahrhundert sich anbahnenden
Industrialisierungsschub gewachsen. Nicht
Carlowitz hat den Wald "gerettet", sondern das
anbrechende fossil-energetische Zeitalter.
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Die energetisch-materielle Basis von
Nachhaltigkeit
Die Besonderheit
erneuerbarer Energien liegt kategorial auf einer
anderen Ebene als die drei Dimensionen der
Nachhaltigkeit, Ökonomie, Ökologie und
gesellschaftlicher Zusammenhalt. Dass Holz wieder
nachwächst (sofern es dies tut, was in ariden und
semi-ariden Gebieten nach Rodung nicht unbedingt
der Fall ist), ist ökonomisch zwar höchst
vorteilhaft, verweist auf ökologische
Zusammenhänge und trägt dazu bei, den sozialen
Frieden besonders in agrarisch strukturieren
Gesellschaften zu erhalten - ist jedoch damit
nicht zureichend erfasst in der spezifischen
Differenz etwa zu Kohle. Allerdings hat der
Brundtland-Report von 1987 bereits nachdrücklich
auf die Bedeutung erneuerbarer Ressourcen für
Nachhaltigkeit, "sustainable development",
hingewiesen und deutlich gemacht, dass hier auch
konzeptioneller Klärungsbedarf besteht. Diese
Klärungen, sofern sie versucht wurden, gingen im
nachfolgenden Kampf der Interessen mit zunehmender
Unschärfe der beiden Leitbegriffe "erneuerbar" und
"nachhaltig" jedoch unter.
Energetisch-materielle Nachhaltigkeit im Sinne der
Erneuerbarkeit ist eine schon im Grundsatz
problematische Kategorie, da Energie und Materie
per se - im Wandel - dauerhaft sind. Wir verlassen
mit der naturwissenschaftlichen Dimension dieser
Kategorie klar die gesellschaftlich geprägte
Begriffsebene von Ökonomie, Ökologie und
Sozialgefüge. Wobei die Kategorie der Ökologie
erkennbar in den Bereich der naturwissenschaftlich
greifbaren Größen hineinragt. Strenge Marxisten
werden dies auch für den Bereich der Ökonomie und
des Sozialgefüges reklamieren. Behalten wir trotz
dieser schon historisch angelegten Übergriffe im
Blick, dass uns Erneuerbarkeit als
energetisch-materielle Nachhaltigkeit kategorial
auf glattes Parkett führt.
Ein Erbe der forstökonomischen Herkunft des
Nachhaltigkeitskonzeptes und seiner Konjunktur im
Kontext des Diskurses zur Ressourcenerschöpfung,
den die Publikation "The Limits to Growth"
eröffnet hatte, ist seine Fokussierung auf
stoffliche Ressourcen. Das wird zukunftspolitisch
riskant vor dem Hintergrund, dass wir zeitgleich
eine Entgrenzung der Ressource Geld erleben, die
im Nachhaltigkeitsdiskurs nicht erfasst werden
kann, ebenso wenig wie die exponentiell zunehmende
Bedeutung der Ressource Information. Problematisch
ist auch die unzureichende Positionierung der
Ressource "Zeit" im Nachhaltigkeitsdiskurs, die
fortstwirtschaftlich einen anderen Rhythmus hat
als dies unserer heutigen gesellschaftlichen
Dynamik entspricht. CO2-neutral ist die
Verbrennung von Holz erst vollständig in dem
Augenblick, wo der verbrannte Vorrat nachgewachsen
ist.
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Eine vierte Dimension der Nachhaltigkeit
Das
Konzept der Nachhaltigkeit leidet entscheidend
daran, ohne klare eigene ethische Bestimmungen
in wertsetzenden Kontexten verwendet zu werden.
Seine ethisch-wertenden Implikationen verbergen
sich dabei hinter den scheinbar objektiven
Kategorien von Ökonomie und Ökologie. Die
soziale Dimension der Nachhaltigkeit öffnet das
Konzept zwar für explizite Wertsetzungen,
verengt diese jedoch auf eine anthropozentrische
Perspektive und auf materielle Güter (bei
Carlowitz das Brennholz für die Armen, heute die
Rücksicht auf den materiellen Bedarf kommender
Generationen). Das macht den Begriff der
Nachhaltigkeit anfällig für diffuse Besetzungen
und diskursiven Missbrauch. Fatal wird dies
aktuell bei der Verkreuzung mit den von höchst
divergierenden ökonomischen, machtpolitischen
und ethischen Interessen besetzten
Themenbereichen "Erneuerbare Energien" und
"Klimaschutz".
Das Konzept "Bewahrung der Schöpfung" hat hier
den unbestreitbaren Vorzug, seine ethischen
Setzungen zu bekennen und in einen definierten
religiösen Kontext zu stellen. "Nachhaltigkeit"
wird hier zu dem, was nicht nur ökonomisch,
ökologisch und sozial sinnvoll ist, sondern auch
religiös geboten. Bei Carlowitz finden wir das
Desiderat vage benannt in seinem Schwärmen
"(w)ie angenehm die grüne Farbe von denen
Blättern sey". Unvermerkt artikuliert sich hier
in der ersten bekannten Ausformulierung des
Nachhaltigkeitsansatzes ein im Ansatz
ästhetisches Argument, das uns im Kontext
verweist auf seine religiös-ethische
Tiefendimension. Diese Verflechtung von Religion
und Ästhetik kennen wir kulturhistorisch
entwickelt aus dem Deutschen Idealismus,
explizit gemacht in der "Kunstreligion"
Schleiermachers, in seinen "Reden über die
Religion" 1799.
Aktuell stehen originär ethische Fragestellungen
im Vordergrund, wobei sich gesinnungsethische
und verantwortungsethische Ansätze,
utilitaristische, teleologische und
deontologische Orientierungen um die
Vorherrschaft im Diskurs streiten. Ästhetische
Ansätze zu einer achtsamen Naturbegegnung, wie
sie in den 80er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts von den Brüdern Gernot und Hartmut
Böhme anspruchsvoll entwickelt wurden, treten
zunehmend in den Hintergrund und spielen
lediglich in den Ausführungen von Naturschützern
und im werbenden Begleitdiskurs zur Durchsetzung
einer "nachhaltigen" Ökonomie noch eine gewisse
Rolle. Inhaltlich finden sie sich residual in
der sozialen Dimension der Nachhaltigkeit als
"Erholungswert" substantialisiert.
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Global Warming
Global
warming/Globale Erwärmung und Climate
change/Klimawandel sind die beiden Begriffe, die
für den erheblichen Anstieg der
durchschnittlichen Temperatur auf unserem
Planeten, der auf menschliches Handeln
zurückgeführt wird, verwendet werden. "Es gilt
als gesicherte Erkenntnis, dass im weltweiten
Durchschnitt menschliches Handeln seit 1750 das
Klima erwärmt hat" - Umweltbundesamt
Dessau-Roßlau am 25.07.2013 unter Berufung auf
den IPCC-Bericht 2007.
1827 beschrieb der Mathematiker und Physiker
Jean-Baptiste Fourier (1768-1830), der sich
unter anderem epochemachend mit
Wärmeleitungstheorie beschäftigte, in "Mémoire
sur les températures du globe terrestre et les
espaces planétaires"" erstmals den
Treibhauseffekt im modernen Verständnis, also
die Tatsache, dass die Erdatmosphäre
Wärmestrahlung zurückhält und damit erst höheres
Leben auf der Erde ermöglicht. Die von ihm
behandelte Wärmestrahlung war die "chaleur
obscure", die Infrarotstrahlung, die Friedrich
Wilhelm Herschel 1800 in London entdeckt hatte.
Der sowjetische Klimatologe Michail Iwanowitsch
Budyko (Vertreter auch der These vom
"Pleistocene Overkill") veröffentlichte 1973 den
Beitrag "Atmospheric carbon dioxide and
climate". Dort rechnet er vor, dass ein Anstieg
des CO2-Gehaltes der Luft um 50% die Polarkappen
zum Schmelzen bringe, dass andererseits eine
Halbierung des CO2-Gehaltes die ganze Erde
vereisen könne. 1977 empfahl er, Sulfat-Aerosole
(Grundbaustein: Schwefeldioxid, in modernen
Rauchgasentschwefelungsanlagen zurückgehalten)
in die Stratosphäre einzubringen, falls die
globale Erwärmung zu einer ernsthaften Bedrohung
des menschlichen Lebens werden sollte. Budyko
stand damit im Kontext des sowjetischen
Geoengineering, das seit den 60er Jahren
Silberjodid verspühen ließ, um regenfreie
Paraden zum 9. Mai zu sichern - ein höchst
umstrittenes Verfahren, dass auch im Westen
gebräuchlich wurde. Inzwischen gilt allerdings,
nach Untersuchungen von Eliza Harris, publiziert
in "Science", dass Schwefeldioxid "als
Gegenspieler der Treibhausgase offenbar weniger
effektiv als bisher angenommen" sei
(Veröffentlichung der Max-Planck-Gesellschaft
vom 09.05.2013).
Ein Zusammenhang zwischen dem CO2-Gehalt der
Luft und Klimaprozessen wurde bereits im
ausgehenden 19. Jahrhundert angenommen. 1895
formulierte der schwedische Chemiker Svanten
August Arrhenius (1859-1927, Nobelpreis Chemie
1903) seine Theorie des Treibhausgaseffektes,
bezogen auf CO2 (Svante
Arrhenius, On the Influence of Carbonic Acid
in the Air upon the Temperature of the Ground,
The London, Edinburgh, and Dublin
Philosophical Magazine and Journal of Science
5/41/April 1896, S. 237-276 - vorgetragen
erstmals am 11.12.1895 vor der Königlichen
Schwedischen Akademie der Wissenschaften).
Er stützte sich dabei explizit auf die
Vorarbeiten von Fourier, Pouillet und Langley.
Arrhenius vermutete auch, dass Wasserdampf in
der Atmosphäre eine ähnliche Wirkung habe wie
CO2 (S. 248, S. 274). Der Anteil menschlicher
Emissionen am CO2-Gehalt der Atmosphäre wird bei
Arrhenius in einem Zitat von Arvid Gustaf Högbom
kurz angesprochen (S. 270). Als Hauptursache für
erhöhten CO2-Gehalt der Luft in Warmphasen
nannte Högbom 1894 allerdings vulkanische
Ereignisse und Eintrag durch Meteoriten (S.
272).
Arrhenius rechnete bereits vor, welche
Veränderungen zu seiner Zeit (1895 wohlgemerkt)
im CO2-Gehalt der Atmosphäre notwendig wären, um
die Klimabedingungen des Tertiär bzw. des letzen
Eiszeittiefs herzustellen. Ein Anstieg des
CO2-Gehaltes der Atmosphäre um das 2,5- bis
3fache hätte ihm zufolge die Temperatur in der
Arktis um 8-9 Grad erhöht, eine Reduktion auf
0,62 bis 0,55 Prozent des aktuellen Wertes die
Temperatur um 4-5 Grad gesenkt (S. 268). Arrhenius
vertrat allerdings die Auffassung, dass die
sekundären Effekte durch Verringerung bzw.
Vergrößerung der Schnee-/Eisbedeckung eine
größere Abkühlungs- bzw. Erwärmungswirkung
hätten als der primäre Effekt von Schwankungen
im CO2-Gehalt (S. 269).
1941 schrieb der Meteorologe und Klimatologe
Hermann Flohn (1912-1997) in der "Zeitschrift
für Erdkunde" mit Blick auf die
Industrialisierung unter dem Titel "Die
Tätigkeit des Menschen als Klimafaktor": "Damit
wird aber die Tätigkeit des Menschen zur Ursache
einer erdumspannenden Klimaänderung, deren
zukünftige Bedeutung niemand ahnen kann." Er
publizierte im Gefolge zahlreiche Beiträge zum
menschlichen Einfluss auf das Klima und gilt als
einer der einflussreichsten Warner vor der
Globalen Erwärmung.
Lektüreempfehlung:
Stephanie Uther, Diskurse des Climate
Engineering. Argumente, Akteure und Koalitionen
in Deutschland und Großbritannien, Wiesbaden:
Springer, 2014
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KULTURGESCHICHTE
DER NATURVERFÜGUNG ⇧
Der Bereich
"Kulturgeschichte der Naturverfügung" wurde Ende
2020 ausgegliedert auf eine eigene
Seite mit Essays zum Naturbegriff, zur
Nachhaltigkeit und zur Kulturgeschichte der
menschlichen Naturbeziehung und des Zugriffs auf
natürliche Ressourcen.
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Eine Kulturgeschichte der Naturverfügung, des auch
konzeptionell manifestierten menschlichen Umgangs
mit Natur, muss sich, will sie nicht
enzyklopädischen Umfang annehmen, auf bestimmte
kulturelle Räume, historische Segmente,
thematische Schwerpunkte beschränken oder eine
strenge Auswahl treffen. Und wo sie in einem
zeitgemäßen Sinne "Kulturgeschichte" sein möchte,
darf sie im 21. Jahrhundert nicht mehr schlicht
die Kulturgeschichte Europas meinen, ohne dies
explizit zu machen.
Mein Anliegen ist,
aus unterschiedlichen Regionen und verschiedenen
Zeiten Zeugnisse des menschlichen
Naturverhältnisses - Naturbegriffe ebenso wie
konkrete Akte - zusammen zu tragen, die uns
anregenden Aufschluss geben können über die
Weisen, in denen menschliche Kulturen zu
verschiedenen Zeiten ihren Bezug zur natürlichen
Umwelt, auch am eigenen Körper, konzeptionell
organisiert haben. Ein um besondere Exaktheit
bemühter Titel hierfür könnte etwa lauten
"Konzepte zum Umgang mit der natürlichen Umwelt
aus den Kulturgeschichten der Welt". Das in etwas
entspannterem Duktus sich anbietende Titelmodell
"Beiträge zu einer ..." würde suggerieren, es
könne einmal eine tatsächlich umfassende
"Kulturgeschichte der Naturverfügung" geschrieben
werden, wovon ich nicht ausgehe. Der Zeitgeist
hält wenig von summarisch abgeschlossenen
Enzyklopädien - und es gibt gute Gründe dafür. So
möchte ich es bei der allgemeinen Titelgebung
belassen.
Die
historisch-zeitliche Reihung der nachfolgenden
Beiträge soll keine Entwicklungslinie suggerieren,
dieser Aufbau wurde lediglich zur Organisation des
Materials gewählt und zur Orientierung der Leser.
Ich gehe weder davon aus, dass Kulturgeschichte
sich als lineare Höher- oder Weiterentwicklung
angemessen darstellen lässt, noch vertrete ich die
Auffassung von einer dekadenten Entwicklung hin zu
einer kulturell verengten
technologisch-konsumistischen Weltzivilisation.
Eine
Organisation des Materials nach logischen
Strukturen möchte ich vorläufig nicht
vorschlagen. Denkbar wäre zunächst die
Unterscheidung danach, ob ein Beispiel eher "die
Natur" (eine
der problematischsten Abstraktionen menschlicher
Denkleistung)
in den Vordergrund stellt oder "den Menschen".
Was nicht darüber hinweg täuschen darf, dass es
immer um menschliche Interessen geht, auch in
Positionen, die "der Natur" die unbedingte
Priorität einräumen. Bernhard Gill unterscheidet
in "Streitfall Natur" 2003 einen
utilitätsorientierten Diskurs
(Nutzungsinteressen der Menschen steht im
Vordergrund) von einem alteritätsorientierten
Diskurs (Natur als das zu bewahrende Andere).
Quer dazu steht die von mir vorgeschlagene
Unterscheidung in ein herrschaftlich
eingreifendes und ein zulassendes
Naturverhältnis.
Es macht eben einen Unterschied, ob der Zugriff
für menschliche Nutzungszwecke rigoros (Stichworte
etwa "Kahlschlag" oder "Überfischung") oder mit
Berücksichtigung ökologischer Zusammenhänge
(Stichwort "Nachhaltigkeit") erfolgt, ob die Natur
ausgrenzend (Zuweisung von Reservaten) oder
integrativ (gemeinsame Lebensräume) bewahrt wird.
Gill führt darüber hinaus als dritten Typus im
Naturdiskurs den identitätsorientierten Diskurstyp
an, der Natur mit identitätsbildender Heimat
verbindet und insofern schützt und nützt.
Die Bezeichnung "Naturverfügung" - statt
etwa "Naturverhältnis", "Naturbezug",
"Naturumgang" - wähle ich hier im Titel wegen der
breiten Spanne ihrer semantischen Bezüge, von
"Herrschaft" ("Verfügungsgewalt") über "Arbeit"
(im Marxismus) und "Autonomie" (in Fichtes
Rechtslehre) bis zu "Heilung" (Schließen der
"Fuge" im ökologischen Diskurs). Als ihr Stachel
fungiert das Konzept der "differance" Jacques
Derridas. Der Begriff "Natur" wird dabei von mir
offen ausgelegt. Ich habe Beispiele aufgenommen,
in welchen mal die "natura naturans" vorrangig
gemeint ist, mal die konkreten Naturphänomene
("natura naturata") in den Fokus rücken, mal Natur
im Sinn von "Wesen", "Sitten" und/oder "Gesetz"
dominiert.
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Die These vom Pleistocene Overkill
Vielfältig sind
die Hinweise auf frühe menschliche Eingriffe
in das Naturgefüge, die zumindest regional
erhebliche Konsequenzen hatten. So sin d die fruchtbaren
Lössebenen des Kraichgau nicht nur Ertrag
glazialer Verwehungen aus dem Urstromtal des
Rheins, sondern teilweise auch zurückzuführen
auf Entwaldungen durch die Michaelsberger
Kultur, die städtische Siedlungen in Bereichen
anlegte, die heute als Ausflugsziele mit
Kapelle oder idyllischen Weinbergen von
Ausflüglern besucht werden. Die entwaldeten
Kuppen wurden in die Täler gespült, das
Großwild verschwand, da es keine Zuflucht mehr
hatte. Ähnliches geschah im Mittelmeerraum, von Platon in seiner
Beschäftigung mit dem Atlantis-Mythos
beschrieben - auch wenn strittig bleibt, ob
Platon selbst dafür auch die menschliche
Tätigkeit verantwortlich machte, oder nur
Naturkatastrophen am Werk sah.
Am massivsten
scheinen die ökologischen Konsequenzen in
Nordamerika gewesen zu sein, wo in der Zeit um
9.000 v. Chr. alle Großsäuger ausstarben. Für
dieses Aussterben, wozu es Parallelen in
Südamerika, in Australien und im nördlichen
Eurasien gibt, prägte Paul Martin, unter
Berufung auf Alfred Russel Wallace ("The World
of Life", 1911), den Begriff des "Pleistocene
overkill" durch menschliche Jäger.
Konkurrierende Theorien gehen von klimatischen
Veränderungen (präboreale Oszillation) oder
Kometeneinschlägen (die ihrerseits auch
Klimaveränderungen bedingten) als Ursache aus.
Allerdings zeigt der von Surovell, Waguespack
und Brantingham 2005 in einem Paper für die
"Proceedings of the National Academy of
Sciences" (26.04.2005) durchgeführte Vergleich
von Daten aus Afrika, Europa, Asien,
Nordamerika und Südamerika eine augenfällige
Korrelation zwischen dem Rückgang der
Großsäugerpopulationen und dem Auftreten des
Menschen - und keine zeitliche Korrelation des
Rückgangs auf den verschiedenen Kontinenten -
wie dies bei globalen klimatischen
Veränderungen als Ursache der Fall sein
müsste. Lediglich für einzelne Populationen,
wie etwa der des Mammut, werden bislang
überzeugende Belege für dominierenden, aber
keineswegs ausschließlichen, klimatischen
Einfluss vorgelegt.
Auffällig ist der insbesondere in Nordamerika
abrupte Rückgang innerhalb einer relativ
kurzen Zeitspanne von etwa 1.000 Jahren. Dem
korrelieren jedoch keine Daten zu einer
vergleichbar dynamischen Entwicklung der
menschlichen Population. Verwiesen wird auf
die Entwicklung neuer Jagdwaffen. Eine andere
Hypothese zur Schließung der Erklärungslücke
ist die Brandjagd-These, wonach die Jäger des
Peistocene Flächenbrände anlegten und damit
die Großsäugerpopulationen über das zur
Ernährung notwendige Maß hinaus dezimierten
sowie ihnen flächenhaft die Lebensgrundlagen
entzogen. Paul Martin sprach gar von einem
"Blitzkrieg" des Homo sapiens gegen die
Großsäuger in Nordamerika. Für Australien kann
davon nach bisherigem Konsens keine Rede sein,
hier gab es nach den Untersuchungen von
Trueman und Field eine 10.000-jährige
Koexistenz von Homo sapiens und Megafauna
("Proceedings of the
National Academy of Sciences",
07.06.2005).
Für die Umsetzung der Formel von der
"Bewahrung der Schöpfung" ergeben sich aus der
Annahme des Pleistocene overkill dramatische
Schlussfolgerungen. "Was late-Pleistocene
extinction so effective in upsetting the
ecosystem that our National Parks, wilderness
areas, and wildlands are an illusion? On a
continent where herbivore herds evolved and
thrived for tens of millions of years, can
there be a natural community without them?" -
Martin in der Einleitung zu Martin/Wright
1967, S. VI.
Lektüreempfehlung:
Paul S. Martin/Herbert E. Wright (Eds.),
Pleistocene Extinctions. The Search for a Cause.
New Haven/London: Yale University Press, 1967
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Jungsteinzeitliche Ausbeutungsverhältnisse
Die gängige
Bezeichnung für den bedeutsamen kulturellen
Umbruch in der Jungsteinzeit zur Sesshaftigkeit
lautet "Revolution". Inzwischen ist al lerdings
bekannt, dass der Übergang von einer Existenz
als Sammler und Jäger zur Seßhaftigkeit mit dem
Hauptakzent auf Landwirtschaft und Viehzucht
zumeist nicht so abrupt verlief, wie der Begriff
"Revolution" nahelegt. Landwirtschaft war in
vielen Kulturen kein Gegensatz, sondern lange
Zeit Ergänzung zur Subsistenz als Sammler und
Jäger - so etwa in den Terra-Preta-Kulturen
Amazoniens, Afrikas und Asiens. Und sesshafte
Kulturen haben in der Regel Sammeltätigkeit und
Jagd in erheblichem Umfang bewahrt - zumindest
so lange, bis durch Entwaldung und Jagdzüge im
Umfeld der Siedlungen nicht mehr viel zu jagen
und zu sammeln war. In Europa haben zudem
Wildbeuter- und Ackerbauernkulturen offenkundig
über Jahrtausende unmittelbar nebeneinander
existiert.
Zu einem
tatsächlichen Bruch kam es erst durch die
Ausbildung städtisch-feudaler Gesellschaften mit
hoher Arbeitsteilung, die eine erhebliche
Effizienzsteigerung der Nahrungsversorgung
erforderte. Bislang wurde davon ausgegangen,
dass erst diese Effizienzsteigerung als
"Revolution" die Ausbildung von städtischen
Strukturen ermöglichte und deren weitere
Ausgestaltung stärkte, um etwa komplexe
Bewässerungssysteme aufzubauen und zu erhalten.
James Scott hat in seiner Studie "Against the
Grain" die entgegengesetzte Position entwickelt.
Scott zufolge wurde der Übergang zur
Landwirtschaft wesentlich erzwungen, und zwar
durch die Oberschichten städtischer
Konglomerate. Am Beispiel der Stadt Uruk vor
5.200 Jahren kann er plausibel machen, dass der
Bedarf dieser anspruchsvollen städtischen
Gesellschaft durch erheblichen Druck nach innen
und die nötigende Ansiedlung umliegender
Volksgruppen für die landwirtschaftliche
Produktion (eine frühe Form der
"Schollenbindung") gedeckt wurde. Und dabei
spielte Getreide eine vorrangige Rolle, wie bei
allen frühen Stadtstaaten. Scott erklärt dies
damit, dass Getreideanbau und insbesondere die
Getreideernte besser kontrolliert werden konnten
und Getreide akkumulierbar war, da weniger
verrottungsanfällig als andere Ackerfrüchte.
Getreide trage so wesentliche Merkmale des
Geldes und sei optimal zu besteuern. Die
Entwicklung der Landwirtschaft war in Uruk und
anderen frühen Stadtstaaten eng verbunden mit
Sklaverei, ausbeuterischer Arbeit, hoher
Sterblichkeit. Die oft besungene Wiege der
Zivilisation war nach Scott für die meisten
Bewohner ein von Seuchen heimgesuchtes Jammertal
endloser Arbeit auf den Feldern, mit massiver
Umweltzerstörung durch Rodungen und
großflächiger Bodenversalzung durch die
Bewässerung.
Nun ist allerdings
Uruk ein Sonderfall, der nicht schlicht
übertragen werden kann etwa auf die
jungsteinzeitliche Sesshaftwerdung in Mittel-
und Westeuropa. Und auch für die unmittelbare
Nachbarschaft Uruks ist daran zu erinnern, dass
schon mehr als sechstausend Jahre zuvor am
Göbekli Tepe die Sesshaftigkeit einsetzte und zu
komplexen Kooperationen führte - so zu einem
Tempelbau, der bislang als erster Tempelbau der
Menschheit gilt. Über Ausbeutungsverhältnisse am
Göbekli Tepe wird (noch) nicht spekuliert,
stattdessen über "Urkommunismus am Göbekli Tepe"
(Lars Hennings).
Scott stellt
seiner Arbeit programmatisch ein Zitat von
Claude Lévi-Strauss voran, der schrieb: "Writing
is a strange thing. (...) it seems to favor
rather the exploitation than the enlightenment
of mankind." ("A Writing Lession", 1961) Was
Scott dann grundsätzlich zum Verhältnis von
Getreide und Geld sowie Getreide und Herrschaft
ausführt, ist für das Verständnis menschlicher
Naturverhältnisse von erheblicher Bedeutung.
Seine Untersuchung "Against the Grain" schärft
unseren Blick für den Zusammenhang von
Naturbeherrschung und Herrschaft von Menschen
über Menschen. Und es schärft den Blick darauf,
wie weitreichend die Entscheidung für den Anbau
bestimmter Nahrungsmittel die Entwicklung von
Gesellschaften und Kulturen ebenso prägt wie die
Formierung der Umwelt. Die jungsteinzeitliche
"Revolution" bedeutete nicht nur die
Durchsetzung der Sesshaftigkeit, sondern auch
die erste Schichtung der Gesellschaft nach
Besitzverhältnissen sowie die erstmals über
abhängige Arbeitskraft vermittelten Eingriffe in
den Naturhaushalt. Sie prägte das
Naturverhältnis europäischer Gesellschaften bis
hinein ins ausgehende Mittelalter (s. Abb.
rechts).
Abbildung: Stundenbuch des Duc de Berry - Juli,
15. Jahrhundert
Lektüreempfehlung: James C. Scott, Against
the Grain. A Deep History of the Earliest
States. Yale University Press, 2017
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Daniel Quinn: Ismael
Daniel Quinn
(*1935) besuchte als Schüler eine private
Jesuitenschule, studierte in St. Louis/Missouri
und Chicago Anglistik und verbrachte 1955 ein
Auslandssemsester in Wien. Nach dem Abschluss
seines Studiums bereitete er sich an der Abtei
"Our Lady of Gethsemane" in Kentucky auf ein
Leben als Trappistenmönch vor, brach allerdings
auf Empfehlung seines Mentors Thomas Merton
(Autor von "The Way of Chuang Tzu" u.a.) ab,
trat später gar aus der katholischen Kirche aus,
und wurde, was er schon früh erstrebt hatte,
Schriftsteller. In dieser Eigenschaft gründete
er in den 70er Jahren eine Schreibgruppe am
Stateville-Gefängnis in Illinois. Sein
bekanntestes Buch ist "Ismael", beendet 1991,
erstmals erschienen 1992, dessen Held ein
Gorilla ist, der über Telepathie mit Menschen zu
kommunizieren vermag und der bestrebt ist, die
Welt vor dem industriell-zivilisatorisch
angebahnten Untergang zu retten, indem er
Schülern sein Wissen vermittelt. In "Ismael" ist
sein Schüler ein weißer Amerikaner mittleren
Alters, dessen Namen im Buch nicht genannt wird.
Quinn bearbeitete sein Thema nochmals in
"Ismaels Geheimnis", 1997 erschienen, nun aus
der Perspektive einer zwölfjährigen Schülerin,
Julie Gerchak.
Ismaels Botschaft
ist die vom Sündenfall der Zivilisation, der
durch Einsicht zu korrigieren sei. Mit dem
biblischen "Im Schweiße deines Angesichts ...",
dem Benediktiner und ihre Abkömmlinge, die
strengeren Zisterzienser und deren strengere
Abkömmlinge, die Trappisten, in besonderer Weise
verpflichtet sind, sei dieser Sündenfall
religiös perpetuiert worden. Ausdrücklich wird
im Roman auch auf das biblische "Macht euch die
Erde untertan" hingewiesen. Es sei Teil des
zivilisatorischen "Mythos der Nehmer" (Quinn
1992, S. 159).
Die "Nehmer/Taker"
sind im Weltbild Ismaels die Vertreter eines
linearen Fortschrittsdenkens, Kulturen mit dem
Anspruch, genau zu wissen, was "wahr" und
"falsch" sei. Sie seien etwa 8000 vor Christus
erstmals aufgetreten und haben, so Ismael/Quinn,
seitdem die Welt erobert (Quinn 1992, S. 144).
Vor ihnen bestimmten die "Lasser/Leaver" die
menschliche Präsenz auf dem Planeten Erde, sie
wurden jedoch zunehmend von den Nehmern
verdrängt und als "primitiv" diffamiert. Der
Unterschied Nehmer-Lasser ist bei Quinn
allerdings nicht identisch mit dem zwischen
Jäger/Sammler und Ackerbauern. Auch Ackerbauern
können "Lasser" sein (Quinn 1992, S. 113) .
Allerdings lässt Ismael das Aufkommen der
"Nehmer" beginnen mit der "landwirtschaftlichen
Revolution" (Quinn 1992, S. 144, Parallelstellen
z.B. S. 44 und S. 68). Der amerikanische Biologe
Raymond Dasmann unterscheidet in "Toward a
Biosphere Consciousness" 1988 zwischen
"Ökosystem-Menschen" und "Biosphären-Menschen".
Seine Unterscheidung entspricht weitgehend der
von Quinn.
In seiner Danksagung zu "Ismaels Geheimnis"
verweist Quinn auch auf Richard Dawkins Theorie
zum "Egoistischen Gen" (1976) als
Inspirationsquelle.
Lektüreempfehlung: Daniel Quinn, Ismael.
Goldmann 1992
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Sintflut
Die drei
bekanntesten Sintflut-Berichte, aus Indien,
Babylon und der Levante, sind sich darin einig,
dass der auserwählte Mensch - Vaivasvata Manu, Utnapischtim
(Uta-napischti), Noah - ein Schiff
bauen solle, um für die belebten Wesen das
Überleben zu sichern. Im Śatapatha-Brāhmaṇa bleibt
Manu nach der Flut zunächst alleine, doch aus
seinen Opfergaben (u.a. Butterschmalz) entsteht
im Verlauf eines Jahres eine weibliche Partnerin
für ihn, mit der gemeinsam er Nachkommen hat. Im
3. Buch des Mahabharata nimmt Vaivasvata Manu
auf sein Schiff "all die verschiedenen Samen
mit, welche einst die zweifachgeborenen
Brahmanen aufgezählt haben". Dieser Bericht
endet mit "Vaivasvata war willens, die Welt neu
zu erschaffen". Ähnliche Berichte gibt es in den
Puranas (Matsya-Purana und Bhagavata-Purana). Im babylonischen
Gilgamesch-Epos nimmt Utnapischtim "allerlei
Lebenssamen" mit auf sein Schiff, seine ganze
Familie sowie "Vieh des Feldes, Getier des
Feldes und alle Werkleute". Am
elaboriertesten erscheint die biblische
Noah-Erzählung, vermutlich auch die jüngste der
drei Legenden, in welcher vier Menschenpaare,
sieben Paare von "reinen" Tieren
und je ein Paar "unreiner" Tiere auf die Arche
gehen.
Wir haben uns daran gewöhnt, die
Sintflut-Berichte als Erzählungen von
(menschlicher) Schuld und (göttlicher) Strafe zu
lesen, dramatisch aufgeladen durch einen
(göttlichen) Gnadenakt für eine herausragende
Einzelperson, die sich durch besondere
Frömmigkeit auszeichnete. Gelesen als Dokumente
menschlicher Naturverfügung gewinnen sie eine
neue Dimension. Sie werden deutbar als Zeugnisse
einer Auffassung, die es Menschen zutraut, eine
gewaltige Naturkatastrophe zu überstehen und
danach einen ausschließlich kulturell
begründeten Neuanfang zu starten, der Züge einer
zweiten - nun menschlichen - Schöpfung trägt. Im
Mahabharata-Epos wird dieses Moment einer
zweiten Schöpfung auch explizit formuliert: "Und
Vaivasvata war willens, die Welt neu zu
erschaffen." Damit wird der Mythos zum kaum
überbietbaren Ausdruck menschlichen
Selbstbewußtseins im Naturumgang. Lange vor
zaristisch-stalinistischem Terraforming an
russischen Flüssen und ähnlichen technologischen
Großprojekten.
Entsprechungen zu diesen drei Sintflutberichten
gibt es in zahlreichen weiteren Kulturen. Bei
Hesiod und anderen griechischen Autoren finden
wir die "Deukalionische Flut". Deukalion war
Sohn des Prometheus, des Menschenfreundes, und
dieser befahl ihm, ein Schiff zu bauen, um so
mit seiner Frau Pyrrha der Flut zu entkommen.
Von Tieren ist hier nicht die Rede, nur die
Rettung der Menschen wird thematisiert. Eine
Inka-Legende berichtet von einem Lamahirten, den
das Verhalten seiner Tiere vor einer Flut
warnte. Er stieg mit seiner Familie auf einen
hohen Berg und blieb so verschont. Bei den
Guarani-Indianern an der Ostküste Südamerikas
gibt es die Legende von Tamandere, der mit
seiner Frau auf einer schwimmenden Palme
gerettet wurde, während alle Berge im Wasser
versanken, auf denen seine Gefährten Schutz
gesucht hatten. Die Azteken und andere
mittelamerikanische Indianer kennen
Sintflutlegenden, in denen ein großes Floß
gezimmert wurde, dessen Benutzer durch einen
Kolibri mit einem grünen Blatt im Schnabel
erfuhren, in welcher Richtung sie wieder
trockenes Land finden konnten. Auch bei den
nordamerikanischen Indianern gibt es
Flutberichte - allerdings fällt dort kein
anhaltender Dauerregen, sondern Flutwellen
überschwemmen das Land. Fast allen Legenden
gemeinsam ist der starke Akzent auf den
Neuanfang danach.
Diese Berichte können gelesen werden als
Nachklänge einer globalen Katastrophe -
möglicherweise auch mehrerer unterschiedlicher,
regional differenzierter Katastrophen. Die
teilweise verblüffenden Motiventsprechungen über
Kontinente hinweg lassen sich deuten als
Hinweise auf einen Kulturaustausch in
frühgeschichtlichen Zeiten, der weit über das
uns bislang Bekannte hinausging - es könnte sich
aber auch, zumindest in Teilen, schlicht um
interpretierende Übertragungen bei der Sammlung
der nord-, süd- und mittelamerikanischen
Legenden im 20. Jahrhundert durch den
Atlantologen Charles Berlitz (1914-2003) und
andere handeln.
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Atharvaveda XII,1 - Hymnus an die Erde
"Die große Hymne
an die Erde" wird XII,1 (Kanda XII,
Sukta 1, Mantras 1-63) der
Atharvaveda in den
deutschen Übersetzungen genannt. Im Text gibt es
Hinweise auf den Bergbau (Mantra 35), er dürfte
daher in der frühen indischen Eisenzeit
entstanden sein, am Ende des 2. Jahrtausends vor
Christus. Die Atharvaveda gehört nicht zu den
kanonisierten Schriften des Hinduismus. Und
insbesondere im Hymnus an die Erde begegnet uns
eine Weltanschauung, die wenig zu tun hat mit
dem, was wir aus den Brahmanas und den
Upanishaden kennen. Fremd mutet dieser Text
innerhalb der heiligen Literatur des Hinduismus
an, erinnernd an den Aton-Hymnus Echnatons. Die
Überlieferung besagt, dass an der Abfassung der
Texte des Atharvaveda auch Frauen beteiligt
waren, während die einige Jahrhunderte jüngeren
Texte der Brahmanas und der Upanishaden wohl
ausschließlich von Männern geschrieben wurden,
Angehörigen der beiden obersten Kasten, der
Brahmanen und der Kshatriyas. Unzweifelhaft
dokumentiert dieser Text noch matriarchale
Traditionen.
Im Hymnus an die Erde geht es nicht um die
Überwindung von Leid und Begehren, um Weisheit
und Abkehr von den niederen Sinnen, wie uns dies
aus den Upanishaden vertraut ist, sondern um ein
gelingendes praktisches Leben. Die im Hymnus
angesprochene "Erde" ("pṛthivī" - die Weite, das
weite Land) ist weder eindeutig Schöpfung
(natura naturata) noch eindeutig
Schöpfungsprinzip (natura naturans).
Angesprochen wird vielmehr in einer
ausgesprochen pragmatisch anmutenden Weise die
Erde, der Planet mit seiner konkreten Gestalt
und Materialität selbst - versehen mit
Attributen eines nährenden, produktiven
Prinzips. So wird die Erde im Mantra 17 explizit
als "Mutter der Pflanzen" vorgestellt, an
anderer Stelle (Mantra 10) als die Menschen
nährende "Mutter Erde" ("pṛthivī mātā").
Eines ihrer wichtigsten Attribute ist der Wald
(11, 27). Daneben werden die
wärmende Sonne (Mantra 15) und Prajāpati, der
androgyne Schöpfergott der Veden (Mantra 43)
genannt. Allerdings bleibt
dessen Funktion untergeordnet, denn es ist die
Erde, "die alles im Schoße trägt". Die
männliche Ergänzung der Erde, ihr Gatte
Parjanya, zuständig für den Regen, wird
gleichfalls nebenbei gewürdigt (Mantras 12 und
42). Erwähnt wird auch Agni, in den wohl
nachträglich eingefügten Mantras 19 und 20. Die
Götternamen erscheinen eher pflichtgemäß
eingestreut, Opfer und Zauber spielen eine
untergeordnete Rolle in diesem Text - anders als
in sonstigen Textes der Atharvaveda.
Die Anrufung der Erde in diesem Hymnus bleibt
nahe an den konkreten Erscheinungen. Besonders
bemerkenswert ist dabei Mantra 35, das anmutet
wie eine Selbstverpflichtung zu nachhaltigem
Naturumgang: "Was ich von dir, o Erde, ausgrabe,
das soll schnell zuheilen. Laß mich, o
Reinigende, nicht deine empfindliche Stelle,
nicht dein Herz durchbohren!" Hier wird
offensichtlich der Bergbau angesprochen, was
auch die Datierung auf den Beginn der indischen
Eisenzeit nahelegt. Kein rituelles Opfer zum
Ausgleich der Eingriffe wird angeboten, der Text
verweist vielmehr pragmatisch auf die
Selbstheilungskräfte der Natur - verbunden mit
dem Versprechen rücksichtsvollen Umgangs.
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Prometheus-Mythos
Der
Prometheus-Mythos ist uns umfangreich
überliefert einmal in der Theogonie des Hesiod
(ca. 740 bis 670 v. Chr.), verfasst in der
ersten Hälfte des 7. vorchristlichen
Jahrhunderts, einmal in einer Tragödie des
Aischylos (wobei diese Zuschreibung von einigen
Wissenschaftlern angezweifelt wird, der
Zeus-Darstellung wegen), "Der gefesselte
Prometheus", vermutlich um das Jahr 472 v. Chr.
entstanden.
Bei Hesiodin in der
"Theogonie" begegnet uns Prometheus als
listiger Gott, der den Göttervater Zeus
gelegentlich im Interesse der Menschen an
der Nase herumführt und von diesem dafür
bestraft wird. Zwei Stellen gibt es zu dieser
Strafe bei Hesiod, die nicht eindeutig in
Einklang zu bringen sind, zunächst wird in den
Versen 521-534 Prometheus an einen Felsen
gekettet, ein Ad ler
frisst die immer wieder nachwachsende Leber des
Gefesselten. In den Versen 613-616 könnte als
Fessel ("desmos") aber auch das "Geschlecht und
Volk der Weiber" ("genos kai phyla gynaikon")
verstanden werden, das in
den Versen davor (591-612) in reichlich
burlesk-komödiantischer Weise als Fessel der
Menschheit (=Mannheit) geschildert wird. Wollte
Hesiod hier - zur Unterhaltung des (männlichen)
Publikums seiner Rhapsodie - signalisieren, dass
Verheiratetsein so schlimm sein könne wie das
Schicksal des Prometheus?
In Hesiods "Werke und Tage", wird der Mythos
sachlicher und knapper vorgestellt - wobei der
zeitliche Bezug zur "Theogonie" umstritten ist.
Hier ist es nicht das Geschlecht der Frauen
allgemein, das der Menschheit Unheil bringt,
sondern lediglich Pandora, die über den Bruder
des Prometheus, Epimetheus, zu den Menschen
gelangt. Allerdings bleiben die Ausführungen
mehrdeutig, zumal das Altgriechische für "Mann"
und "Mensch" das gleiche Wort "anthropos"
verwendet. Die Fesselung des Prometheus an den
Felsen wird in "Werke und Tage" nicht erwähnt,
Zeus wendet sich an Prometheus lediglich in den
Versen 53-56 mit der Drohung, er werde sich "dir
selber und den kommenden Menschen zum Unheil"
rächen für den Feuerraub - und zwar, wie dann in
den nachfolgenden Versen ausgeführt wird, durch
die Schaffung der Pandora. Diese Zuspitzung
könnte der Abfassung des Textes als Mahnung
für Hesiods Bruder Perses geschuldet sein, dem
Hesiod Habgier vorwarf - aber darüber hinaus als
Mahnung für die zeitgenössische Gesellschaft
insgesamt.
Aischylos stützt sich auf Hesiod, aber
vermutlich auch auf andere, uns unbekannte
Quellen. Prometheus erscheint bei Aischylos ganz
explizit als Menschenfreund, als Kulturbringer,
gar als Erlöserfigur, die gegen den strafenden
Zeus die Interessen der Menschheit verteidigt.
Im 20. Jahrhundert wurde Prometheus aus
technikkritischer Position zum Symbol einer
selbstzerstörerischen Technokratie, die
insbesondere durch die Anhäufung der
Atomwaffenarsenale, aber auch durch
rücksichtslose Ressourcenausbeutung und
Umweltverschmutzung das Leben nicht nur der
Menschen auf dem Planeten ernsthaft bedroht. In
der amerikanischen Forschung zum Naturverhältnis
der Sowjetunion (Stephen Brain, Douglas Weiner)
werden als "Promethians" die Vertreter einer
Position bezeichnet, die Natur als beliebige
Verfügungsmasse des menschlichen Zugriffs
verstehen und eine vollständig technologisch
verfügte und gestaltete Umwelt als Ideal
anstreben. Klaus Heinrich hat dem eine
Rehabilitation der Prometheus-Figur als
kritischen Aufklärer im politisch-sozialen
Verständnis gegen alle Formen von Herrschaft -
auch die einer totalitären Herrschaft über die
natürliche Umwelt - entgegen gehalten.
Abbildung:
Griechische Schale 550 v.Chr.
Lektüreempfehlung: Klaus
Heinrich, Dahlemer Vorlesungen 8.
Gesellschaftlich vermitteltes Naturverhältnis.
Begriff der Aufklärung in den Religionen und der
Religionswissenschaft. Frankfurt (Main)/Basel:
Stroemfeld, 2007
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"Bewahrung der Schöpfung" oder "Macht euch die
Erde untertan"?
Das Christentum
wurde von der Ökologiebewegung lange als
ideologisch mitverantwortlich für den
menschlichen Raubbau an der Natur angesehen. Die biblische
Forderung "füllet die Erde und machet sie euch
untertan" (1. Mose 1,28 - Lutherbibel 1984),
das "Dominium terrae", sei die Grundlegung für
eine jahrhundertelange Ausbeutung der
Naturressourcen im menschlichen Interesse. Ausgearbeitet
wurde diese Position vor allem durch den
Technikphilosophen Lynn Townsend White, der 1966
in seinem Aufsatz "The historical roots of our
ecological crisis" die jüdisch-christliche Begründung der
Naturbeherrschung als Motor der
Industrialisierung und Naturausbeutung
vorstellte. Kritisch setzte sich mit seinen
Thesen der Theologe Udo Krolzik auseinander in
"Umweltkrise - Folge des Christentums?", 1979.
Nach seiner
Überzeugung schuf erst die Säkularisierung die
Voraussetzungen für eine umweltzerstörende
Naturbeherrschung (Krolzik 1979, S. 84).
1983 einigte sich auf Anregung der
DDR-Delegation und des Ökumenischen Patriarchats
von Konstantinopel - im Gedenken des
Atombombenabwurfs auf Hiroshima, mit Blick auf
das anhaltende Wettrüsten und die Umweltkrise -
die Vollversammlung des (christlichen)
Weltkirchenrates in Vancouver auf einen
"konziliaren Prozess gegenseitiger Verpflichtung
auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der
Schöpfung/Conciliar Process of mutual commitment
to justice, peace and the integrity of
creation". Dieser Ansatz kann sich gleichfalls
auf Bibelstellen berufen, so insbesondere auf 1.
Mose 1,31 ("Und Gott sah, dass es gut war.") und
1. Mose 2,15 ("Und Gott der HERR nahm den
Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass
er ihn bebaute und bewahrte.")
Die relevanten Bibelstellen stammen allerdings
aus dem Alten Testament. Im Neuen Testament
finden sich keine vergleichbaren Passagen. Der
Begründer des Christentums und seine frühen
Anhänger haben sich ganz offenkundig für den
Umgang mit den weltlich-natürlichen Ressourcen,
mit der konkreten Schöpfung wenig interessiert -
anders als etwa 600 Jahre später Mohammed und
seine Anhänger. Dies kann allerdings auch vor
dem Hintergrund verstanden werden, dass die Tora
für Christus und das frühe Christentum weiterhin
(mit den Modifikationen und Ergänzungen des "ich
aber sage euch") in Gültigkeit blieb und als
Teil des Alten Testamentes bis heute im
Christentum Bestand hat. Die neue Botschaft des
Christentums bezog sich auf das Verhältnis der
Menschen untereinander und zu Gott, nicht auf
ihr Schöpfungsverhältnis. Natur erscheint im
Neuen Testament als genutzte Natur, als
Weinberg, Olivenhain, Schaf- oder Schweineherde
- und dies nur randständig.
Für die umstrittene Stelle 1. Mose 1,28 wird in
jüngerer Zeit gefragt, ob die gängigen
Übersetzungen dem Gemeinten gerecht werden, ob
nicht eher ein gleichsam gärtnerischer Umgang
(wie ihn 1. Mose 2,15 nahelegt) intendiert
gewesen sei. Doch sind die Originalquellen in
ihren Aussagen eindeutig. Das hebräische "
rə·ḏū" bedeutet
"regiert", "ḵiḇ·šu·hā" bedeutet
"unterwerft/nehmt in Besitz". Und so
haben das auch die Verfasser der Septuaginta
verstanden. Dort steht: "καὶ κατακυριεύσατε αὐτῆς καὶ
ἄρχετε" - "und unterwerft sie (die Erde/"
τὴν γῆν") und regiert (die
Fische ...)". Der Theologe und Kabarettist
Matthias Schlicht hat 1999 in einem Vortrag
zur Gentechnik angeführt, dass "radah" im
fruchtbaren Halbmond auch das Verhältnis
eines Hirten zur Ziegenherde benennen konnte
und "kabasch" biblisch auch die Urbarmachung
von Land bezeichne (Josua 18). Nun geht es
in Josua 18,1 allerdings um Landteilung nach
einer Eroberung/Unterwerfung - und
Urbarmachung wird in Josua 17,18 als
Waldrodung angesprochen, mit einem Wort, das
eher Kahlschlag meint als gärtnerische
Pflege. Auch wenn natürlich dem Kahlschlag
Anbau folgt, bleibt ein Unbehagen bei der
aktuellen Deutung von 1. Mose 1,28 als
Ausdruck eines ökologisch achtsamen
Naturverhältnisses.
Die Auffassung, das Christentum habe die
Menschheit der Natur gegenüber achtsamer
gemacht - im Vergleich zur Antike - findet
sich explizit schon Anfang des 19.
Jahrhunderts bei Alexander von Humboldt. In
seinem "Kosmos" (1845-1862) schreibt er im
V. Kapitel, "Naturbeschreibung. Naturgefühl
nach Verschiedenheit der Zeiten und der
Volksstämme": "Die christliche Richtung des
Gemüts war die, aus der Weltordnung und aus
der Schönheit der Natur die Größe und die
Güte des Schöpfers zu beweisen." Er nennt
als ersten Beleg Naturschilderungen in der
Schrift "Octavius" des christlichen
Apologeten Marcus Minucius Felix aus der
Zeit um 200 nach Christus, zitiert
ausführlich dann aus Schriften des
Kirchenlehrers Basilius von Caesarea
(330-379).
Es ist festzuhalten, dass das 1. Buch Mose
für beide Positionen Unterstützung bietet,
für die moderne "Bewahrung der Schöpfung"
ebenso wie für ein radikales "Macht euch die
Erde untertan", wie es von Bacon und
Descartes bis ins 20. Jahrhundert hinein
gelesen wurde. Allerdings ist für beide
Positionen keine spezifisch "christliche"
Herleitung aus den kanonisierten Schriften
des Christentums möglich. Einen
Schlüsseltext zum Verständnis des
Kulturprozesses, der die beiden Positionen
strukturierte, bietet "Iudicium Iovis" von
Paulus Niavis, 1495. Der Text wird weiter
unten vorgestellt.
Lektüreempfehlung: Udo Krolzik,
Umweltkrise - Folge des Christentums?
Stuttgart/Berlin 1979
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Die Hängenden Gärten von Babylon
In
der Regierungszeit des babylonischen Königs
Nebukadnezar II. (geboren ca. 640,
Regierungszeit 605 bis 562 v. Chr., zuvor schon
ab 620 von seinem Vater eingebunden in die
Regierungsgeschäfte) wurden das Ischtar-Tor
errichtet, die Medische Mauer gebaut, der
Turmbau zu Babel vollendet und die Hängenden
Gärten angelegt.
Die Hängenden Gärten als eines der sieben
Weltwunder der Antike werden üblicherweise mit
dem Namen der Semiramis verbunden, einer
Königin, die etwa 200 Jahre vor Nebukadnezar in
Babylon regierte. Nach den Ausgrabungen und
Untersuchungen Robert Koldeweys handelte es sich
allerdings eindeutig um ein Bauwerk
Nebukadnezars, errichtet für seine Frau Amyitis,
die aus dem Land der Meder stammte, einer grünen
und bergigen Region südlich des Kaspischen
Meeres. "Hängend" ist dabei keine stimmige
Bezeichnung, basierend auf dem griechischen
"kremastoi", das auch "schwebend" bedeuten kann.
Es handelte sich offensichtlich um begrünte
Gebäudeterrassen, ein erstes Vorbild also für
das, was Harry Glück in Wien, Alt-Erlaa,
1973-1985 bauen ließ und was heute Architekten
wie Rüdiger Lainer weiter verfolgen. Die
Bewässerung der Terrassenanlage wurde durch
einen Paternoster bewerkstelligt, dessen Reste
Koldewey entdeckte.
Wer die Hängenden Gärten in ihrer Bedeutung für
die Kulturgeschichte der Naturverfügung
verstehen möchte, darf den Bezug zu den anderen
Bauwerken Nebukadnezars nicht unterschlagen. Auf
Nachhaltigkeit waren die Hängenden Gärten so
wenig angelegt wie Turm und Mauer - es ging um
die Bedürfnisse einer kleinen Elite, um
Herrschaft und ihren Erhalt. Die Hängenden
Gärten sollten uns daher aufmerksam machen für
die Ambivalenzen auch grüner Utopien - sichtbar
geworden zuletzt in den fatalen Konsequenzen der
Förderung von Biosprit. Schlecht eingesetzt
zerstört auch ein ökologisch fundierter Ansatz
die Landschaft und soziale Systeme, klug
eingesetzt kann selbst der Bagger auf der
Almwiese Landschaft und Biodiversität steigern,
wie das Permakulturkonzept des Sepp Holzer
zeigt, das Geoengineering im Kleinen einsetzt
unter der Prämisse, die Natur anschließend
weitgehend alleine machen zu lassen. Was Holzer
macht hat lehrreiche Vorläufer etwa in den
Klosteranlagen der Zisterzienser.
Festzuhalten bleibt: Auch grüne Utopien haben
einen substantiellen Bezug zu dem, was die
Kulturgeschichte am Beispiel des Turmbaus zu
Babel aus alttestamentarischer Sicht als
"Hybris" brandmarkt, der (göttliche) Strafe auf
den Fuß folge ("Hochmut kommt vor dem Fall").
Die Hängenden Gärten verbildlichen ein positives
Potential menschlicher Intervention im
Naturhaushalt, heute verengt als
"Ausgleichsmaßnahmen" gehandelt. Der Turmbau zu
Babel sollte uns aber zugleich an die notwendige
Bilanzierung kultureller, sozialer, politischer
und ökologischer Kosten aller, auch
ausgleichender, Eingriffe erinnern.
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Dào Kě Dào Fei Cháng Dào
Wenig wissen wir
über Laozi (Laotse, Lao-tse, Lao Tzu, Laudse,
Lau-dse), die Referenzperson des Daoismus, dem
Brecht das Gedicht "Legende von der Entstehung
des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in
die Emigration" (1938) widmete. Die Botschaft
des Brechtschen Gedichtes ist, dass ohne
Fragende, ohne Schüler auch der Weise, auch der
beste Lehrer spurlos vergehe. Von der Lehre des
Laozi teilt uns Brecht, aus dem Munde eines
Knaben, der den Ochsen des Reisenden führt, mit:
"Daß das weiche Wasser in Bewegung/Mit der Zeit
den harten Stein besiegt."
Die in China verbreiteten Legenden vom Leben des
Laozi nennen für sein Wirken den Beginn der
"Zeit der Frühlings- und Herbstannalen", als die
ersten bekannten chinesischen Philosophenschulen
sich um die Lehre der richtigen Staatsführung im
Lernen aus der Geschichte bemühten. Laozi sei in
dieser Zeit als Archivar am Hof von Zhou
beschäftigt gewesen und auch als besonders
gelehrt in den Philosophenschulen gerühmt
worden. Einmal sei der junge Kongzi/Konfuzius
(551-479) zu ihm gekommen, habe aber keine ihn
befriedigenden Antworten auf seine Fragen
bekommen und sei enttäuscht wieder abgereist.
Bald darauf habe Laozi den Hof verlassen, um
sich auf Wanderschaft ("Emigration" ist eine
Deutung Brechts) zu begeben. Die chinesische
Überlieferung spricht von einem Wasserbüffel,
auf dem Laozi gereist sei. Unterwegs habe er auf
die Bitte eines Grenzwächters hin seine Lehre,
das Daodejing niedergeschrieben. Angedeutet wird
auch, dass er auf seiner Wanderung später an den
Ganges gekommen sei und dort den Buddha (563-483
nach der "Langen Chronologie") getroffen habe.
Und in der Tat gibt es zwischen dem frühen
Buddhismus und dem Daoismus signifikante
Übereinstimungen.
Ob es Laozi als reale Person wirklich gab ist
umstritten. Möglicherweise ist er eine Erfindung
der Daoisten, die im 3. Jahrhundert mit den
Konfuziusanhängern um die Vorherrschaft im
politischen Beratergewerbe rangen - als
Vertreter der "reinen" Lehre des Dao gegenüber
seiner Formalisierung im Konfuzianismus. Die
historischen Belege und die Rezeption in China
sprechen dafür, dass es sich beim Daodejing um
eine Sammlung überlieferter Weisheiten
verschiedener Eremiten, Geschichtsschreiber und
Philosophen handelt, die erst um 300 v. Chr.
kanonisiert wurde, möglicherweise durch Zhuangzi
(365-290). Über das Dao sagt Zhuangzi (in der
Übersetzung von Thomas Merton/Johann
Hoffmann-Herreros): "'Tao' sagen, ist: ein
'Nicht-Ding' nennen. Tao ist nicht der Name von
etwas, 'was existiert'."
Das Daodejing beginnt mit einem Epigramm aus
zwei Sätzen. Der erste Satz sagt uns über den
"Weg", die Wegleitung, das richtige Leben, die
gelingende Staatsführung, die Methode der
Wahrheitsfindung, das Dao, dass wir im Rahmen
der Identitätslogik nichts über das Dao aussagen
können. Dies wird im folgenden Satz auch über
die Anrufung/die Namen der Dinge/des Seienden
gesagt. Gemeinhin wird dies übersetzt im Sinne
von: Was immer wir über das Dao sagen können,
erfasst dieses nicht. Was immer wir über die
Namen des Seienden sagen, erfasst diese nicht.
Der Daoismus wird in der westlichen Rezeption
als naturphilosophisches Konstrukt verstanden.
Der Theologe, Missionar, Pädagoge und Sinologe
Richard Wilhelm hat schon früh entschieden
darauf aufmerksam gemacht, dass der Daoismus
nicht zu reduzieren ist auf die Lehre des
Daodejing, welche als eine moralphilosophische
Umsetzung des älteren Daoismus verstanden werden
kann. Von Interesse für uns heute ist die
Ableitung einer Morallehre aus
naturphilosophischen Prinzipien, was dem
westlichen Denken keineswegs fremd, aber doch
etwas verdächtig ist. Schon bei Heraklit finden
sich Ansätze dazu, Empedokles führte dies
begrifflich stringenter aus, Epikur hat
dergleichen unternommen, Spinoza entwickelte
dies aus seiner Formel "deus sive natura",
aktuell arbeiten naturethische Positionen sich
daran ab.
Die beiden ersten Epigramme machen deutlich, wo
der Link zwischen Naturphilosophie und
Moralphilosophie zu sehen ist. Was in westlicher
Philosophie Geist, Erstes Prinzip, Erster
Beweger wäre, in westlicher Religion der
unsagbare Gott, Demiurg und Bewahrer, ist hier
das Dao, ein Prinzip, das sich selbst sein
Anderes ist, das keinen Satan, keinen
Sündenfall, keine Materie als sein Anderes
fordert, an dem es arbeiten muss, gegen das es
sich zu behaupten hat als Herr und Meister. Der
Weg, das Dao ist auch der Nicht-Weg. Die
begriffliche Welt ist auch die unbegreifbare
Welt. Der Daoismus bietet einen Ansatz, Natur
nicht als defizitär, als erlösungsbedürftig, als
durch den Menschen zu seiner Erfüllung zu
bringendes Mängelwesen zu lesen, sondern als
Lehrwerk - auch für ein Moralsystem, das nicht
auf Strafen oder Erziehen abhebt, sondern auf
Folgerichtigkeit und Ausgleich. Dabei werden die
Grundprinzipien des Naturprozesses zur
Anleitung, nicht, wie in jüngerer Zeit bisweilen
in popularisierter Verhaltensforschung, das
Verhalten von Tieren.
Lektüreempfehlung:
Thomas Merton, Sinfonie für einen Seevogel.
Geschichten und Meditationen des Zhuangzi,
Ostfildern: Patmos, 2012
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Empedokles und das "Bewußtsein der
Verwandtschaft"
Wir sind es
gewohnt, die Lehre von der Seelenwanderung als
dem westlichen Denken fremd anzusehen. Doch bei
den Orphikern und einigen Vorsokratikern gab es
auch in der griechischen Antike ausgeprägte
Konzeptionen zur Reinkarnation - etwa zeitgleich
mit den maßgeblichen Lehrströmungen in
Hinduismus und Buddhismus. Wirksam blieben sie
bis Platon, mit jüdischen und später
christlichen Vorstellungen waren sie nicht
vereinbar.
Wir kennen, neben der widersprüchlich
überlieferten Lehre der Pythagoreer, vor allem
die Wiedergeburtslehre des Empedokles, die in
seiner nur in Bruchstücken sekundär
überlieferten Ethik ("Reinigungen", zwei Bücher)
vorgestellt wird und die in seiner teilweise im
Original überlieferten Naturphilosophie
("Physik", drei Bücher) eine gewisse
theoretische Grundlegung erfährt, was seine
Theoriekonstruktion besonders interessant macht
für den Diskurs des menschlichen
Naturverhältnisses. Das erste Buch der Physik,
bruchstückhaft überliefert vor allem durch
Simplikios und im "Straßburger Papyrus", enthält
die Lehre, wonach es kein wirkliches Werden und
Vergehen gebe, sondern lediglich eine
Neuzusammensetzung und Trennung der vier
Urstoffe, Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser.
Zusammensetzung/Vereinigung und Trennung werden
dabei geleistet von den beiden Urkräften Liebe
(philia, philotes) und Haß (neikos , neikeos,
neikeos echthei). Damit skizziert Empedokles
eine Naturtheorie, die nicht in eine materielle
und eine spirituelle Welt trennt, nicht in
Schöpfer und Schöpfung.
Allerdings gefährdet er seinen Ansatz in der
Morallehre mit der unklaren Bestimmung dessen,
was sich (nach heutiger Vorstellung) beim Gang
der Reinkarnationen bewahrt als das
Reinkarnierte. Er führt lediglich aus, dass es
der "Haß" (so wird "neikos" bei Empedokles meist
übersetzt - die Bedeutung ist auch "Streit",
"Zwietracht") sei, der Wiedergeburten antreibe.
Es ist daher problematisch, seine Lehre als
Reinkarnationslehre zu charakterisieren und zu
eng vom Modell der Orphik her zu deuten. Wenn
etwa Heraklit den Zwiespalt (polemos) als Vater
aller Dinge bestimmt, meint er keine zu
überwindende böse Macht, sondern ein
schöpferisches Prinzip (falls wir nicht die
Deutung bevorzugen, er habe nur konkret
politisch den Krieg gemeint). Und davon zehrt
auch die Lehre des Empedokles, auch wenn er dem
Haß lediglich zuspricht, die Elemente für den
schöpferischen Prozess stets neu bereit zu
stellen.
Dem Haß beigesellt ist die Liebe, die aus den
Teilen immer wieder ein neues Ganzes fügt. Als
historische Referenz für ihre Kraft zitierte
Empedokles in Fragment 128 das "Goldene
Zeitalter", das bei ihm klar matriarchalische
Züge trägt, mit der "Liebe" (Kypris, philia) als
Herrscherin: "Da wurde kein Altar mit gräulichem
Stierblut besudelt, sondern das galt damals bei
den Menschen als der größte Frevel, einem andern
Wesen das Leben zu rauben und seine edlen
Glieder hinunterzuschlingen."
Empedokles wendet sich also entschieden gegen
das Töten und Verspeisen von Tieren als
barbarische Akte und begründet dies explizit aus
seiner Wiedergeburtslehre, etwa im Fragment 137:
"Der Vater hebt den eigenen Sohn auf, der eine
andere Gestalt angenommen hat, schlachtet ihn
und spricht das Gebet dazu (...). In genau
derselben Weise ergreifen den Vater der Sohn und
die Mutter ihre Kinder, rauben ihnen mit Gewalt
das Leben und verspeisen das Fleisch der
Verwandten."
Was Empedokles über
das Goldene Zeitalter sagt, ist überliefert vor
allem in einem Fragment des Theophrast
(374/369-288/285). Dort findet sich eine
Formulierung, die aus Sicht aktueller Diskurse
um Tierrechte und "Bewahrung der Schöpfung" von
brennender Aktualität als - vergessenes -
kulturelles Erbe des sogenannten "Abendlandes"
wird: "Als nämlich, wie ich meine, die Liebe
(Philia), und das heißt das Bewußtsein der
Verwandtschaft (to syggenes aistheseos), alles
beherrschte, mordete niemand etwas, weil man die
übrigen Lebewesen als verwandt betrachtete."
(Mansfeld 1987, S. 477).
Die
Spannung zwischen Physik und Ethik des
Empedokles wird in der Forschung oft als
Ausdruck eines Leib-Seele-Dualismus in seiner
Lehre gesehen - so vor allem bei Wilhelm Nestle
1906. Das verleugnet jedoch die Ansätze in der
Philosophie des Empedokles, diesen bei den
Orphikern und anderen zelebrierten Dualismus
aufzuheben und damit der materiellen Naturwelt
Eigenwert zuzusprechen bzw. sie als unablösbaren
Anteil der Menschenwelt anzusehen. Die
Wiedergeburtslehre des Empedokles mündet in
einer Wiederkehr des Goldenen Zeitalters durch
eine Verlagerung in der Gewichtung der beiden
Urprinzipien Liebe und Streit zugunsten der
Liebe, nicht durch eine Vernichtung des
antagonistischen Prinzips. Darauf hat mit
Nachdruck Jaap Mansfeld bereits 1987 und erneut
- etwas abgeschwächt - 2011 (gemeinsam mit
Oliver Primavesi) in den Reclam-Ausgaben
vorsokratischer Texte hingewiesen (Mansfeld
1987, S. 390 et pass., Mansfeld/Primavesi 2011,
S. 408).
Bemerkenswert ist auch, dass Empedokles seine
Naturlehre verknüpft mit der Einordnung der
Götterwelt in den Schöpfungsprozess als
geschaffene Wesen unter anderen - lediglich mit
besonderer Lebensdauer, "langlebig" - Physika I,
269-272 (Straßburger Papyrus). Das
wiederkehrende Goldene Zeitalter als Reich der
Liebesherrschaft bei Empedokles stellt in seiner
philosophischen Durchdringung ein wichtiges
Bindeglied dar zwischen mythologischen
Vorstellungen und der christlichen Lehre bzw.
auf ihr basierenden chiliastischen Konzeptionen
etwa bei Joachim von Fiore und späteren
philosophischen Konzeptionen im Deutschen
Idealismus.
Friedrich Hölderling macht den Philosophen in
seinem Drama "Der Tod des Empedokles" zu einem
Charakter, der durch sein Wirken eine Ahnung vom
Goldenen Zeitalter zu geben vermochte, der im
Einklang mit der Natur lebte, aber an seinen
eigenen Ansprüchen und dem Versuch einer
politischen Umsetzung seiner Ideale scheiterte.
Lektüreempfehlungen:
Maria Laura
Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd.
II, 2009. Jaap
Mansfeld/Oliver Primavesi, Die Vorsokratiker,
2011.
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Platons Atlantis-Berichte
Die beiden späten
Dialogen "Timaios" und "Kritias" (vermutlich
nach 360 v. Chr. entstanden) enthalten Platons
Thematisierung des Atlantis-Mythos, wobei
"Kritias" gar den Nebentitel "Atlantikos" trägt.
"Kritias" wurde nach "Timaios" geschrieben und
verweist ausdrücklich auf das bereits im
"Timaios" Gesagte (108e).
Im "Timaios" beginnt die Atlantis-Erzählung mit
einem Bericht des Solon von einer Ägyptenreise.
Dort haben ihm die Priester von Saïs Geschichten
über die "alten Zeiten" der Stadt Athen erzählt.
Zunächst erwähnen sie kurz die Deukalionische
Flut und den nachfolgenden Neuanfang durch
Deukalion und Pyrrha (22a, 22b). Dann folgt eine
grundlegende Reflexion über die "(v)iele(n) und
mannigfache(n) Vernichtungen der Menschen", z.B.
die im Phaëton-Mythos berichtete durch "eine
Abweichung der am Himmel um die Erde kreisenden
Sterne" - lesbar als Meteoriteneinschlag oder
erhöhte Sonnenaktivität (22c, 22d). Der
"Timaios" beschreibt auch in Grundzügen die
Topographie von Atlantis und ihre Position im
Atlantik. Im "Kritias" wird das Staatswesen der
Atlantiden differenziert beschrieben, vor allem
aber wird die Gesellschaft der Ur-Griechen und
ihre militärische Auseinandersetzung mit den
Atlantiden geschildert, als diese Richtung Europa
und Asien expandierten. Dabei wurden sie von den
Griechen, insbesondere den Athenern, erfolgreich
gestoppt - ehe Attika teils und Atlantis
vollständig durch eine Naturkatastrophe zerstört
wurden.
Die Atlantis-Erzählung bei Platon wird heute in
den Wissenschaften vorwiegend gedeutet als
Versuch Platons, seine eigenen Staats- und
Gesellschaftsauffassung durch einen fiktiven
historischen Bezug zu legitimieren. Als
Tatsachenberichte wurden die beiden Texte
bislang vor allem von Atlantis-Erforschern
aufgefasst, von Athanasius Kircher über Ignatius
Donelly und Paul Schliemann bis Charles Berlitz.
Ex negativo lässt sich die geringe Neigung der
zeitgenössischen Wissenschaftsgemeinde, seine
Ausführungen wörtlich zu nehmen, auch begründen
durch die massive Erschütterung, die dies für
die Fortschrittsidee bedeutet. Die Vorstellung,
unsere kulturelle Entwicklung sei als weitgehend
kontinuierlicher Anstieg von Wissen und
Kunstfertigkeit - mit gelegentlichen
Rückschlägen - zu verstehen, steht eher hilflos
vor Berichten, wonach unsere Vorfahren mehrmals
die Schrift und damit verbunden eine Hochkultur
erlernt und wieder vergessen/verloren haben.
Insbesondere gibt uns dies für die Zukunft
erhebliche Unsicherheiten. Bei der Umsetzung
wissenschaftlicher Erkenntnisse in
risikobehaftete wirtschaftliche Projekte wird
angesichts ungelöster Probleme (Endlagerung
radioaktiver Abfälle, Rückbau oder Kontrolle
stillgelegter Atommeiler, Ersetzung verbrauchter
Ressourcen, Plastikmüllentsorgung etc.) stets
darauf verwiesen, dass die Menschheit bei der zu
erwartenden weiteren Entwicklung diese Probleme
selbstredend erfolgreich lösen werde. Platon
erschüttert diesen Glauben mit seiner
Atlantis-Geschichte nachdrücklich, hält jedoch
am Sinn der Bemühungen um eine Verbesserung der
Verhältnisse fest. Dies mit einem Projekt
gesellschaftlicher Organisation, das anmutet wie
die Wiederinstallation eines historisch für den
Mittelmeerraum überholten Kastensystems, das es
den "alten" Griechen - 9.000 Jahre vor Platon,
zum Beginn der präborealen Oszillation mit einem
Meeresspiegelanstieg von ca. 9 Metern! -
ermöglicht habe, gegen die Heeresmacht der
Atlantiden zu bestehen.
Die Entsprechungen in den diversen
Sintflut-Legenden und vor allem die Koinzidenz
mit dem Beginn der präborealen Oszillation sind
durchaus Argumente dafür, hinter den Platonschen
Atlantis-Berichten einen historischen
Wahrheitskern zu vermuten. Dass Platon die
historische Überlieferung - sofern es sie
tatsächlich gab - für sein ideologisches
Anliegen zupass kam und entsprechend von ihm
überformt und ausgestaltet wurde, ist
anzunehmen. Bislang fehlen allerdings
hinreichende archäologische Evidenzen. Was gegen
die Existenz einer Hochkultur mit Ausstrahlung
in den Mittelmeerraum in der Zeit um 10.000 vor
Christus spricht, ist auch das Fehlen
entsprechender Befunde aus Ägypten, dem Land,
das laut Platon die Erinnerung an Atlantis und
die zeitgleich lebenden hochentwickelten
Ur-Griechen bewahrte.
In unserem Kontext sind Platons Berichte vor
allem aufschlussreich als Zeugnisse eines
intensiven Bewußtseins von der Verletzlichkeit
menschlicher Zivilisation, ihrer Abhängigkeit
von Naturprozessen, von Veränderungen der
Umweltbedingungen und Katastrophen natürlichen
Ursprungs.
Abbildung:
Atlantis-Karte von Athanasius Kircher, aus
seinem "Mundus subterraneus", 1664-68 - Norden
liegt unten.
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Lukrez: Natur als Stoffkreislauf
Die junge
christliche Kirche hat ihn nicht gemocht.
Kirchenvater Hieronymus schreibt zu Lukrez, er
sei durch einen Liebestrank wahnsinnig geworden
und habe sich mit 44 Jahren das Leben genommen.
Der Selbstmord wird auch in anderen Quellen
angeführt, ansonsten wissen wir wenig über das
Leben des Philosophen. Der von Hieronymus
genannte "Liebestrank" verweist eher auf die
Kategorie übler Nachrede denn auf einen
Lebensbericht. Mit der Möglichkeit des
Selbstmordes beschäftigt sich Lukrez im 3. Buch
von De rerum natura (rer. nat.). Das ganze Buch
gilt der Einheit von Seele und Körper und dem
Thema des Todes, vor dem sich zu fürchten
unsinnig sei. Es gebe keinen "Tartarus" in den
zu stürzen nach dem Tode wir erwarten müssten
(rer. nat. 3, 966). Später im Buch bringt Lukrez
Beispiele von Menschen, die sich wegen Krankheit
oder Altersermattung ruhig selbst den Tod
gegeben haben. So etwa Demokrit (rer. nat. 3,
1039ff), der beim Nachlassen seines
Gedächtnisses im hohen Alter (heute nennen wir
das "Demenz") den Tod vorzog. Demokrit wurde
etwa 90 Jahre alt.
Demokrits Lehre war, vermittelt über Epikur,
Vorbild der Atomlehre des Lukrez, die in "De
rerum natura" entwickelt wird. Für Lukrez
besteht die ganze Welt, einschließlich der
Seele, aus Atomen. Auch Gedanken seien nichts
weiter als Bewegungen von Atomen. Im ersten Buch
werden die Grundlagen seiner Atomlehre
entwickelt. Interessanterweise wird dabei
zunächst die Göttin Venus angerufen und
gepriesen. Sie solle den Dichter und Denker
segnen und begleiten bei seiner Arbeit, auf dass
diese erfolgreich und gehört werde. Allerdings
ist Venus kein Prinzip in der Lehre des Lukrez.
Bei ihm gibt es nur die Atome als Urbausteine,
die in stetem Wechsel neu formiert werden. Über
das organisierende Prinzip hüllt er sich in
Schweigen. Ganz zu Beginn erscheint in einer
poetischen Wendung die "Künstlerin Erde/daedala
tellus" (rer. nat. 1, 7), die Blumen
hervorbringe. Ansonsten spricht er von der
"natura", erklärt jedoch nicht weiter, wie diese
Atome zu steuern und zu strukturieren vermag. Er
bemüht sich vielmehr, die Weltdinge rein
deskriptiv zu erfassen und ohne Rekurs auf
Götter und Dämonen. Wo der Erklärungsbedarf
drängend wird, verweist er lakonisch auf
"Samen/semine".
Prämisse seiner Lehre ist, dass nichts aus
Nichts entstehen könne, dies gelte für jedes
Ding. "Denn entstünde es aus Nichts, so könnt
aus jeglichem Dinge jegliche Gattung entstehn
und nichts bedürfte des Samens." (rer. nat. 1,
19). Nebenbei findet sich dieser Gedanke auch
bei Empedokles in Vers 261ff des ersten Buches
seiner Physik. An Empedokles kritisiert Lukrez,
dass er sich auf lediglich vier Elemente stütze,
Luft, Erde, Wasser und Feuer. Er hebt ihn jedoch
weit über die anderen Vorsokratiker hinaus und
beschäftigt sich eingehend mit ihm (rer. nat. 1,
716ff).
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"Natur" im Neuen Testament
Im Neuen Testament
kommt Natur im allgemeinen Sinne von natürlicher
Umwelt kaum vor. Wenn sie komplex erscheint, so
als bloße Kulisse, als Inszenierungsangebot für
Wunder, etwa beim Gehen über Wasser und bei der
Besänftigung eines Sturmes, oder in Topoi der
Leidensgeschichte als menschlich gestaltete
Natur, etwa im Garten Gethsemane.
Individualisierte Naturphänomene dienen häufig
positiv als Bild für Christus oder seine
Anhänger, wobei Weinstock und Ölbaum, also zwei
der wichtigsten Kulturpflanzen, dominieren.
Gelegentlich ist ein negativer Bezug auffallend,
so wird ein Feigenbaum verflucht, da er keine
Früchte trägt (Markus 11,14) und Schweine werden
zum Blitzableiter für das Böse (Markus 5,13).
Wobei wir auch hier von gleichnishaft-bildlicher
Rede ausgehen müssen, bei der Deutung des
Sachbezuges ist also Vorsicht geboten.
Konzeptionell erscheint Natur gelegentlich im
Neuen Testament im Sinne einer allgemein
Naturordnung - mit deutlich kultureller
Formatierung. So etwa in Römer 11,24, wo ein
"von Natur" ("kata physin") wilder Ölzweig
"wider die Natur" ("para physin") auf einen
veredelten gepropft wird. Thematisiert wird als
Teil dieser Ordnung auch die "menschliche Natur"
in einem diffus biologisch-sozialen
Referenzrahmen. Dies geschieht zumeist in
lehrhaften Kontexten, was nicht erstaunt
angesichts der dezidiert gesellschaftlichen
Ausrichtung schon des frühen Christentums.
Zur Natur des Menschen äußern sich die
Evangelisten in jenem bekannten "Der Geist ist
willig, aber das Fleisch ist schwach." So etwa
in Markus 14,38 ("To men pneuma prothumon he de
sarx asthenes." Die Verbindung von "fleischlich"
und "menschlich" stellt der 1. Korintherbrief
3,3 her: "Eti gar sarkikoi este hopou gar en
hymin selos kai eris kai dichostasiai ouchi
sarkikoi este kai kata anthropon." Sündiges
Fleisch, leibliche Lüste, Fleischgenuss (wobei
unklar bleibt, ob nur Opferfleisch gemeint ist
oder Tierfleisch allgemein) sind zentrale
kritische Themen im Römerbrief wie im ersten
Korintherbrief. "Menschliche Natur" ist damit
aufs engste assoziiert. Es ist daher wenig
überzeugend, wenn die Lust- und
Leibfeindlichkeit des Christentums, wie häufig
geschieht, erst auf Augustinus zurückgeführt
wird.
Im 1.
Korintherbrief 11,14 werden lange Haare bei
Männern gezeichnet als gegen das gerichtet,
was die Natur lehrt ("he physis didaskei") -
was keinen Einfluss auf die späteren
Jesusdarstellungen hatte. Gelegentlich werden
auch einander gegenübergestellt das Geistige
("to pneumatikon") und das
seelische-sinnlich-naturhafte ("to psychikon")
- so 1. Korintherbrief 15,46. Dass Menschen
auch von Natur ("physei") gut handeln können,
lehrt Römer 2,14.
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Die Welt als Garten I: Der christliche
Klostergarten
Das Christentum ist
über den verlorenen Paradiesesgarten des Alten
Testamentes mit dem Gartenthema signifikant
verbunden. Doch im Neuen Testament erscheint das
Thema kaum. Einzig der Garten Gethsemane, der
Garten der Ölpresse, hat herausragende Bedeutung
- in der Leidensgeschichte Jesu. Erst mit der
Regula Benedicti, 66.6, wird der Garten zu einem
prägnanten Bild im Christentum, als zentraler
Bestandteil monastischer Lebensführung. Die
Regel 66 handelt von der Autarkie des Klosters,
die unter anderem durch einen eigenen Garten
("hortus") gesichert werden solle, um die Mönche
von jeder äußerlich-weltlichen Zerstreuung
abzuhalten. Damit begann die Erfolgsgeschichte
christlicher Klöster als Zentren der
landwirtschaftlich-gärtnerischen Entwicklung, in
der insbesondere die Benediktiner und ihre
reformistisch-strengeren Abkömmlinge,
Zisterzienser und Trappisten, sich
auszeichneten. So wurde beispielsweise das
Wissen um den Olivenanbau am nördlichen
Mittelmeer während der mittelalterlichen
Kältezeit in Benediktinerklöstern bewahrt und
der Olivenanbau dann in der
spätmittelalterlichen Wärmezeit von diesen
Klöstern ausgehend neu belebt.
Klöster entstanden häufig auf Rodungsinseln, mit
welchen die Klostergründungen auch zu Pionieren
in der Erschließung noch unbesiedelter Regionen
wurden. Damit konnten sie anschließen an Josua
17,18 - im Zuge der Eroberung kanaitischer
Gebiete wurde dem Stamm Josephs ein Berggebiet
zur Rodung übergeben. Die erste
Benediktinergründung auf dem Monte Cassino
529/540 wurde exemplarisch, angelegt im Bereich
eines ehemaligen Apollotempels und einer
römischen Befestigungsanlage, zerstört 577
(Langobarden), neu besiedelt 717, erneut
zerstört 883 (Sarazenen) und im Gefolge immer
wieder aufgrund seiner strategisch bedeutsamen
Lage umkämpft.
Die benediktinische Regel des "ora et labora"
befreit die Arbeit (als Arbeit mit den Händen,
am natürlich Vorhandenen), von dem Makel, der
ihr insbesondere in der griechischen Stadtkultur
anhaftete und den Juden- wie Christentum mit der
Strafe nach dem Sündenfall ("im Schweiße deines
Angesichts") verbanden. Dafür hatte bereits
Augustinus in "De Genesi ad litteram" 8,8 die
Voraussetzungen geschaffen, indem er darauf
hinwies, dass auch vor dem Sündenfall gearbeitet
wurde, jedoch als Mitarbeit an der Schöpfung
Gottes. Ein Ansatz, den das Mönchstum für seine
Arbeit gleichfalls reklamierte. Insbesondere der
Klostergarten sollte so zu einem Spiegelbild des
Paradiesgartens werden. Ein "Paradies auf Erden"
zu schaffen, war also nicht erst die Idee
chiliastischer Strömungen von Joachim über die
Quäker und andere protestantische Gruppen bis zu
Teilen des Marxismus. Interessant ist der
Unterschied zwischen östlichem und westlichem
Mönchstum, auf den Udo Krolzik hingewiesen hat:
Während im östlichen Mönchstum auch sinnlose
Arbeit als hilfreich auf dem Weg zum Heil
angesehen wurde, gab es im westlichen Mönchtum
(das diese Auffassung durchaus auch kannte) eine
starke Tendenz, sinnlose Arbeit zu vermeiden und
ermüdende Arbeit durch Maschinen zu ersetzen, so
ist bereits aus dem 6. Jahrhundert etwa der
Ersatz von Getreidemahlen per Hand im Kloster
durch eine Wassermühle dokumentiert (Krolzik
1979, S. 179).
Gut dokumentiert ist der Beitrag der
Benediktinergründungen zwischen dem 7. und dem
10. Jahrhundert zur Kultivierung Österreichs.
Die Ungarneinfälle brachten Rückschläge, doch ab
1060 expandierten die Klöster erneut und
leisteten dann vor allem in der Barockzeit einen
wesentlichen Beitrag zur Entwicklung und
Stabilisierung des Habsburgerreiches, dessen
Gärten heute gelegentlich als Ausdruck einer
"Gartenmanie" der Habsburger gewertet werden.
Referenz der österreichischen Feudalgärten waren
dabei unter anderem die barocken Gartenanlagen
des Benediktinerstiftes Melk, die ideologisch
den Paradiesgarten, praktisch unter anderem den
englischen Landschaftsgarten zitierten.
Lektüreempfehlung:
Udo Krolzik, 'Macht Euch die Erde untertan ...!'
und das christliche Arbeitsethos. In: Klaus M.
Meyer-Abich: Frieden mit der Natur, 1979
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Die Welt als Garten II: Gärten des Islam
610 Jahre nach
Christi Geburt und vier Generationen nach der
Gründung des ersten christlichen Klosters auf
dem Monte Cassino hat der Begründer des Islam,
Mohammed ibn Abd Allah, nach eigenem Bericht
sein Erweckungserlebnis, während des Ramadan,
des "heißen Monats" im arabischen Kalender. Die
Gestaltung dieses Erlebnisses in der Sure 96
zeigt das Vorbild der Psalmen, Mohammeds
Auftreten orientierte sich an den Figuren von
Mose und Jesus, die im Koran beständig präsent
sind, auch namentlich. Aufgewachsen im
multireligiösen Pilgerort Mekka, bei einem mit
dem Pilgerwesen beruflich befassten Großvater,
war Mohammed mit der jüdischen und mit der
christlichen Überlieferung bestens vertraut. Von
ihnen übernahm er den radikalen Monotheismus,
den er verband mit einer Neubelebung des
Tieropfers und mit vormonotheistischen
Göttlichkeitsvorstellungen, die das Numinose als
andauernd in der Schöpfung tätig wirksam
ansahen.
Die Auffassung der andauernden Präsenz des
Schöpfers in der Schöpfung bedingte eine andere
Haltung zur natürlichen Umwelt als sie das
Christentum entwickelte. Sie ist zu lesen vor
dem Hintergrund, dass der Koran beide
Traditionen beerben und wenden wollte, die
christliche und die jüdische, als Erneuerung der
Religion Abrahams, wie Mohammed seine Sendung
verstand. Wo das Christentum zum Weltverhältnis
auf das Alte Testament verweisen konnte,
beansprucht der Koran eine eigenständige
Position und Lehre. Dazu stammt der Koran aus
einer Region, die weit trockener war und
schwieriger zu bewirtschaften als die Levante.
Ein achtsamer Naturumgang, insbesondere mit der
Ressource Wasser, ergab sich als unabdingbar.
Dies spiegelt sich etwa in der Sura 4:119 wider.
Dort ist es der Satan, der bedinge, dass die
Menschen, Ungläubige, die Schöpfung
verunstalten! In der Sura 55:10 wird deutlich
gemacht, dass die Schöpfung nicht für den
Menschen alleine, sondern für alle Geschöpfe
gemacht sei.
Insbesondere das Bild des Gartens hat die
Naturauffassung des Islam nachhaltig geprägt. So
finden wir im Koran 150 Stellen zu Garten
("dschanna"), davon 59 Stellen zum
Paradiesgarten als ursprünglicher Behausung
Adams und Evas sowie Erfüllungsort jenseitiger
Verheißung. In der Sura al-Baqara, 2:265,
erscheint der Garten als verheißungsvolles Bild
für die Gläubigen, die wohltätig sind nicht zur
Selbsterhebung und des gesellschaftlichen Ruhmes
wegen, sondern einzig um Allah zufrieden zu
stellen und für sich selbst (anfusihim). Dem
gegenüber steht der Stein, der von einer Schicht
Muttererde überzogen ist, die bei Regen
abgespült wird (Sura 2:264) - während der Garten
bei Regen reiche Früchte trägt. Charakteristisch
für den Garten im Koran ist, dass ein Wasserlauf
ihn durchzieht. Dies bestimmt auch die realen
Gärten des islamischen Kulturkreises, die sich
zudem durch eine streng geometrisch-rechwinklige
Anlage und eine Einfriedung auszeichnen.
Eine hochentwickelte Gartenkultur gab es zur
Entstehungszeit des Islam im gesamten Orient.
Spektakuläre Anlagen waren allerdings an
historisch zurückliegende Machtkonzentrationen
gebunden und lebten zur Entstehungszeit des
Islam nur noch in Überlieferungen aus
Altägypten, Babylon und Altpersien fort. Eine
Erinnerung daran bewahrte auch das hebräische
Wort für einen eingehegten Garten, Park, Hain:
"pardes/pardec" auf, das aus dem Altpersischen
entlehnt ist. Die Gartenwelt des vom Islam in
den ersten Jahrhunderten geprägten Kulturraums
war durch arabische, persische und türkische
Traditionslinien beeinflusst. "Drei Auffassungen
von der Natur, von der Landschaft und mithin vom
Raum, von Anfang an konfliktär." (Petruccioli
1995, S. 9) Im 10. Jahrhundert wurde
insbesondere und modellgebend die feudale
persische Gartenarchitektur unter islamischen
Vorzeichen neu belebt.
Das größte
Heiligtum des Islam ist der schwarze Quader
der Kaaba in Mekka, ein altes abrahamitisches
Heiligtum und nach islamischer Überzeugung von
Abraham und Ismael gemeinsam erbaut am
ehemaligen Ort des Paradiesgartens. Mekka
selbst hat keinen repräsentativen Garten
(mehr?), allerdings den zentral bedeutsamen
Brunnen "Zamzam", dessen Quelle schon den
Paradiesgarten gewässert habe.
Abbildung: Rekonstruktion des Bagh-i Hizar
Jarib in Isfahan.
Lektüreempfehlung:
Attilio Petruccioli (Hrsg.), Der islamische
Garten, Stuttgart 1995
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Naturwissen als
Herrschaftswissen - das japanische Modell
Die seit der
Verfassung von 1947 nur noch mit repräsentativer
Macht ausgestattete Yamato-Dynastie in Japan,
die älteste Erbmonarchie der Welt, begründete im
4. und 5. nachchristlichen Jahrhundert mit Hilfe
chinesischer und koreanischer Einwanderer ihre
Macht durch die Übernahme neuer Technologien in
der landwirtschaftlichen Bewässerung und im
Militärwesen. Im 7. Jahrhundert gestaltete die
Dynastie nach chinesischem Vorbild Verwaltung
und Bildungswesen tiefgreifend um. In dieser
Zeit wurde auch der Titel "Tennô"
(Beherrscher des Himmels/Himmlischer Herrscher)
installiert, ausgestattet mit der Auffassung von
der göttlichen Abkunft des japanischen
Kaisertums. Der Buddhismus wurde in diesem
Kontext faktisch zur Staatsreligion.
Den Untersuchungen des
Japanologen Christian Steineck/Raji C. Steineck
zufolge, der an der Universität Zürich lehrt,
entwickelte sich in der kulturellen Blüte des 8.
Jahrhunderts in Japan eine spezifische
Auffassung von Naturwissen als
Herrschaftswissen. Das Bildungssystem war ganz
den Zwecken der Verwaltung und der
Herrschaftsstabilisierung untergeordnet.
Naturprozesse mussten verstanden werden als
beherrschbar durch den Tennô - dies wurde
umgesetzt durch eine Verbindung des technischen
Wissens mit dem magischen Wissen, wie es in
buddhistischen Klöstern tradiert wurde. "So
trieb man noch 1206 eine unglückliche
Planetenkonstellation auf Geheiß des Tennô durch
buddhistische Rituale auseinander" (Steineck
2010, S. 31).
Dargestellt wird das
Naturwissen der Zeit Steineck zufolge in den
beiden historiographischen Werken Kojiki
(712) und Nihonshoki (vor 735), zwei
konkurrierende Chroniken der japanischen
Mythologie und Urgeschichte, in einem
Verzeichnis der Provinzen und ihrer
Besonderheiten mit dem Titel "Fudoki", in der
Gedichteanthologie Manyoshu, in buddhistischen
Schriften und in Gesetzen sowie
Verwaltungsvorschriften. Ein dominierender
Naturbegriff lässt sich dabei nicht greifen,
aber doch eine stringende Auffassung von Natur
als dem Tennô und der gesellschaftlichen
Funktionalität unterworfenem Komplex.
Auf den ersten Blick abseits
der gesellschaftlichen Funktionalität scheint
der Naturbegriff zu stehen, der sich in den
Gedichten der Zeit widerspiegelt. Hier werden
Empfindsamkeit für Landschaftsbilder, für
jahres- und tageszeitliche Stimmungen und
unscheinbare Naturgegebenheiten zelebriert.
Steineck sieht aber auch hier die "Technik der
Herrschaft" am Werk: "In einem wesentlich
anthropozentrischen Weltbild disponiert die
rechte Wahrnehmung der Umgebungsatmosphäre auch
zum rechten Handeln" (Steineck 2010, S. 31). Was
nicht erstaunt, waren die großen japanischen
Dichter des 8. Jahrhunderts doch oft hochrangige
Mitglieder der Staatsverwaltung wie Gouverneure
oder Generäle. Andere gehörten in den
unmittelbaren Umkreis des Tennô als Hofdichter
oder als Hofdamen.
Konzeptionalisiert wird
Natur in verschiedenen Begriffen, von denen
keiner den Gehalt der "natura naturans"
aufweist. Entsprechend fehlt auch ein Konzept
der "natura naturata". Der Begriff, der am
ehesten dem Begriff eines Naturganzens
entspricht, "tenchi", bedeutet "Himmel und
Erde". Mit der Scheidung der beiden beginnt,
ähnlich wie im Alten Testament, die Ordnung des
Kosmos. Allerdings folgt dem nicht die Schöpfung
der Lebewesen mit dem Zielpunkt Mensch. Eine
Scheidung in belebte und unbelebte Natur kennt
der altjapanische Naturbegriff ebenso wenig wie
eine Hierarchisierung der Lebewesen. Herrscher
der Natur ist nicht der Mensch, sondern einzig
der Tennô.
Lektüreempfehlung: Christian Steineck,
Vormoderne ostasiatische Naturbegriffe und ihre
ethische Bedeutung. In: Michael Fischer, Die
Kulturabhängigkeit von Begriffen, Ffm: Lang,
2010
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Hildegard von
Bingen (1098-1179)
Die berühmte Klage
der Elemente im "Liber vitae meritorum" III,1
der Hildegard von Bingen lautet: "Wir können
nicht laufen und unseren Weg demgemäß vollenden,
wie unser Gebieter es uns bestimmt hat. Denn die
Menschen drehen uns mit ihren bösen Werken um
wie eine Mühle. Daher stinken wir vor Pest und
vor Hunger nach der ganzen Gerechtigkeit."
(Liber vitae meritorum III, 1) Das scheint
bereits vorweg zu nehmen, was der Humanist
Paulus Niavis Ende des 15. Jahrhunderts in
seinem "Iudicium Iovis" von antiken Gottheiten
verhandelt sein lässt. Bei Paulus Niavis ist der
Bergbau im Erzgebirge Anlass der Klage von
"Terra Mater". Und bei Hildegard? Auf den ersten
Blick handelt es sich hier um Verfehlungen der
Menschen allgemeiner Art, um Laster,
Boshaftigkeit, rücksichtslose Lebensführung,
Hass, Neid und so fort, die den Umsturz der
Elemente bewirken. Doch dürfen wir ihre
Äußerungen aus dem Mund der Elemente nur
symbolisch lesen? Der Bergbau im Soonwald bei
Bingen erlebte im 11. Jahrhundert einen
Aufschwung. Wir müssen annehmen, dass auch in
der Nähe des Klosters Rupertsberg Kohlemeiler
standen, die der weiter folgenden Klage "die
Luft speit so viel Schmutz aus, weil die
Menschen ihren Mund nicht zur Rechtschaffenheit
öffnen" (LVM III,2) insbesondere bei Westwind
eine konkrete Grundlage hätten geben können.
Und der
Medizinhistoriker Heinrich Schipperges deutet
dies ganz so, er schreibt vom "wahrhaft
ökologischen Auftrag" des Menschen, der bei
Hildegard zu finden sei, und von seiner Schuld
"an Luftverschmutzung und Mißernten, an
Krankheiten und klimatischen Katastrophen"
(Schipperges 2004, S. 61). Entsprechend
übersetzt Schipperges LVM III,2 weit eindeutiger
als Maura Zátonyi: "Noch aber sind
alle Winde voll vom Moder, und die Luft speit
so viel Schmutz aus, daß die Menschen kaum
noch wagen, ihren Mund aufzumachen"
(Schipperges 2004, S. 60). Im lateinischen
Original steht: "Venti de fetore rauci facti
sunt, et aer sordiditatem euomit,
quoniam homines ad rectitudinem os suum non
aperiunt." Es ist erkennbar, wie beide
Übersetzungen über den Befund hinaus
interpretierend verfahren. Wobei Hildegards
Erläuterungen (LVM III,26 etwa) eher für die
Übersetzung von Zátonyi sprechen.
Unübersehbar ist
bei Hildegard von Bingen der Bezug zur
Apokalypse des Johannes. Deren Bilderwelt ist
nach bisherigem Wissensstand jedoch aus
Naturkatastrophen und gängigen
Katastrophenschilderungen seiner Zeit genommen,
nicht aus dem Bereich der menschlichen
Naturnutzung. Von Johannes ausgehend und durch
die ganze Geschichte des Christentums hindurch
werden Naturkatastrophen gedeutet als
Strafgerichte Gottes für menschlichen
Ungehorsam, für Laster und Sünde. Bei Hildegard
finden wir eine ganz erstaunliche Umdeutung. Bei
ihr greift Gott nicht strafend in das
Naturgeschehen ein - vielmehr erscheinen die
Elemente selbst verstrickt in das Tun der
Menschen, vom Menschen aus der Bahn geworfen:
"Die Menschen sind ja mit den Elementen und die
Elemente mit den Menschen verbunden" (LVM III,23).
Hildegardis - eine
der ersten Mahnerinnen gegen nicht-nachhaltigen
Naturumgang? Lesen wir noch, was die
Naturforscherin, Theologin und Psychologin in
LVM II die "Maßlosigkeit" sagen lässt: "Wonach
es mich verlangt und was ich suchen kann, das
sammle ich ein und enthalte mich keineswegs.
Warum sollte ich mich enthalten, wenn ich doch
keine Belohnung dafür bekomme? Warum sollte ich
aufgeben, was ich bin, wenn doch jede Gattung
nach ihrer Art existiert?" (LVM II,13). Dem wird von
der "discretio" geantwortet: "Alles nämlich,
was Gott eingerichtet hat, gibt einander
Antwort." (LVM II,14) Dies stützt wiederum die
Deutung Schipperges'.
Das LVM wird
zitiert, wo nicht anders angegeben, nach der
Übersetzung von Sr. Maura Zátonyi OSB.
Lektüreempfehlung:
Heinrich Schipperges, Hildegard von Bingen,
München: C. H. Beck, 2004 (5. Auflage, zuerst
1995)
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Das dritte Reich des Geistes bei Joachim von
Fiore
Joachim
von Fiore (~1130/35-1202) war Sohn eines
Notars in Celico/Kalabrien. Nach einer
standesgemäßen Ausbildung arbeitete er selbst
einige Jahre als Notar in Cosenza und dann in
der Kanzlei am Hof von Wilhelm I. in Palermo.
Ab etwa 1160 widmete er
sich verstärkt religiösen Themen, pilgerte
nach Jerusalem, zog als Prediger durch die
Lande und trat schließlich in ein
Zisterzienserkloster ein. 1191 begründete
er seinen eigenen Orden als strengere
Ausgründung der Zisterzienser, die
ihrerseites erst 1098 als Orden einer
strengeren Observanz des Benediktinertums
entstanden waren. Joachim
lebte und wirkte im zeitlichen und
konzeptionellen Umfeld der Blüte des
Katharertums, war älterer Zeitgenosse des Franz
von Assisi und des Dominikus von Caleruega.
Er begann seine
religiöse Karriere als apokalyptischer
Wanderprediger, der das unmittelbar
bevorstehende Erscheinen des Antichristen und
den Anbruch des Tausendjährigen Reiches
verkündete. Wie auch die anderen Apokalyptiker
seiner Zeit bezog er sich dabei auf das
Johannesevangelium. 1165 hatte er nach eigenem
späteren Bekenntnis bei der Lektüre des
Johannesevangelium (Joh. 14,16ff) seine Vision
vom Dritten Reich des Geistes, das nun anbreche,
nach dem Reich des Vaters (Altes Testament) und
dem Reich des Sohnes (Neues Testament). Seine um
das Jahr 1200
ausgearbeitete Konzeption vom Dritten
Reich ist widersprüchlich und bricht implizite
mit den vertrauten messianischen Konzeptionen,
die er selbst zunächst vermutlich (die
Quellenlage zu seinem Leben und Wirken ist dünn)
vertreten hatte, in zweifacher Weise. Zum einen
folgen seine drei Reiche nicht abrupt
aufeinander, sie überschneiden einander
vielmehr. Zum zweiten verdankt sich die
Verwirklichung des Dritten Reiches nicht einer
singulären Erlöserfigur (auch wenn Joachim
verschiedentlich den "Engel des siebten Siegels"
aus der Johannesoffenbarung dafür bemüht),
Protagonisten sind vielmehr im Grundsatz alle
Menschen, vorrangig gelehrte Mönche, aber auch
Laien, Männer wie Frauen. Joachims Lehre
bedeutete letztlich auch die Abschaffung der
Hölle und des Teufels, die werden bei ihm nicht
mehr benötigt.
Wie aber steht es
um die Natur, um die menschliche Leiblichkeit,
um Tiere und Pflanzen bei Joachim von Fiore?
Josef Ratzinger hat Joachim in seiner
Habilitationsschrift Schwärmertum vorgeworfen
und dessen Lehre auch noch später in seiner
Papstzeit als "spiritualistisch" und tendenziell
"anarchistisch" kritisiert - etwa in seiner
"Generalaudienz" vom 10. März 2010. Wie der
""neue Himmel" und die "neue Erde" des Johannes
(GO 20,1) aussehen sollten, bleibt unklar bei
Joachim. Bestimmt ist bei ihm lediglich, dass
eine gleichsam globalisierte Menschheit in
unmittelbarem Kontakt mit dem Göttlichen ein
erfülltes Leben führe. Bestimmt ist auch, dass
die zweite Schöpfung kein Menschenwerk sei, aber
der einsichtigen Bejahung durch die Menschheit
bedürfe.
Fiores Einfluss
auf die Geistphilosophie Hegels ist bekannt,
blieb allerdings ohne substantielle inhaltliche
Relevanz. Friedrich Engels bezieht sich in
seinem Buch über den Bauernkrieg auf Joachim von
Fiore, später Ernst Bloch in "Das Prinzip
Hoffnung". Für den Soziologen Eugen
Rosenstock-Huessy war die russische Revolution
ideologisch durch Joachim von Fiore inspiriert.
Die immer wieder behaupteten Bezüge des
Nationalsozialismus zu Fiores Konzeption vom
"Dritten Reich des Geistes" - angeblich
vermittelt durch Arthur Moeller van den Brucks
Buch "Das Dritte Reich" von 1923 - lassen sich
nicht belegen. Moeller erwähnt Joachim von Fiore
mit keiner Silbe, bezieht sich allerdings
gelegentlich auf Hegel. Im übrigen hat der
Nationalsozialismus sich entschieden von
Moellers Konzeption einer konservativen
Revolution distanziert (vgl. André Schlüter
2010). Und die Prophezeiung eines
Tausendjährigen Reiches stammt aus der
Johannes-Offenbarung, 20. Kapitel (gelegentlich
wird zur näheren Bestimmung auch auf Joh. 18,36
und andere Bibelstellen verwiesen, die
allerdings keine Zeitdauer nennen).
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Der Sonnengesang des Franz von Assisi -
"sustentamento" der "creature"
Der Sohn eines
wohlhabenden Tuchhändlers in Assisi, mit
bürgerlichem Namen Giovanni Batista Bernardone
(1181/82-1226), beschließt 1205 nach Jahren
jugendlicher Ausschweifungen und zwei
gescheiterten Versuchen, sich als Cavaliere im
freiwilligen Kriegsdienst zu bewähren, sein
Leben Gott zu widmen. Seine Zeit und
sein politisch-soziales Umfeld waren
zweifellos religiösen Ausnahmepersönlichkeiten
besonders gewogen. Das 11. und vor
allem dann das 12. Jahrhundert hatten intensive
monastische Reformen erlebt, Zisterzienser,
Prämonstratenser und Augustiner-Chorherren
formierten sich. Dazu kamen neue Gründungen wie
die des Bettelordens der Karmeliten um das Jahr
1150, in Südfrankreich breiteten sich die
Katharer aus und die Kreuzzugsideologie des 11.
Jahrhunderts war noch virulent. Ende des 12.
Jahrhunderts hatte Joachim von Fiore seine
Vorstellung vom kommenden dritten Reich des
Heiligen Geistes entwickelt, 1215 wurde der
Orden der Dominikaner zur Missionierung der
Katharergebiete gegründet. In Assisi wurde
1193/94 die spätere Heilige Klara geboren und
1197/98 deren Schwester, die spätere Heilige
Agnes.
Franz von Assisi
wird heute gelegentlich als Vorläufer der
Ökologiebewegung gefeiert. In Heft 3/2013 der
Zeitschrift "natur" nennt Franz Alt anlässlich
der Namenswahl des gerade neugewählten Papstes
den Heiligen aus Assisi "Gottes grünen Krieger"
und "Jahrtausendheiligen". "Der Heilige Franz
war konsequenter Ökologe, überzeugter Pazifist,
echter Tierfreund und radikal arm." Das Bild vom
"konsequenten Ökologen" kann sich auf ein
einziges Zeugnis, den Sonnengesang des Franz von
Assisi, stützen. Auch bei einer großzügigen
Auslegung der Kategorie "Ökologe" fällt es
schwer, der Auffassung Alts zu folgen. Die
menschliche Interaktion mit der Natur wird im
Sonnengesang mit keinem Wort angesprochen. Dass
die Sonne, der Wind und das Feuer als "Bruder",
Mond, Wasser und Erde als "Schwester" - jeweils
dem grammatikalischen Geschlecht im
Italienischen folgend - angesprochen werden, ist
entschieden zu dünn für einen Ausweis
eigenständiger ökologischer Ansätze. Nicht Tiere
und Pflanzen werden hier als Geschwister
angesprochen, sondern Sonne, Mond und die vier
Elemente. Damit knüpft Franziskus an antike
Traditionen an, die in der Astrologie und der
Elementenlehre der Renaissance neu belebt
wurden. Dass diese zum historischen Erbe des
modernen ökologischen Denkens gehören, sei
unbestritten.
Franziskus schrieb
seinen Gesang "Il Cantico delle Creature" oder
"Cantico di Frate Sole" als er ab 1224
schwerkrank in einem Gebäude der Damianitinnen
(später Klarissen) bei der Kirche San Damiano
gepflegt wurde. Dies erklärt auch die dem Cantico
strukturell fremde letzte Strophe, geschrieben
kurz vor dem Tod, in der die "sora nostra
morte corporale", der leibliche Tod als
Schwester, angesprochen wird. Die im Titel
genannten "Creature" sind nicht Objekte,
sondern Subjekte des Cantico. Im ausgeführten
Cantico erscheint dann aber nur der Mensch,
noch enger das sprechende Individuum,
subjekthaft. Die anderen Geschöpfe werden
objekthaft mitgenannt, als Geschöpfe des
"Signore", die dieser am Leben erhalte, wobei
das gewählte Wort "sustentamento" durchaus die
Qualität hat, dem Nachhaltigkeitsdiskurs als
ein frühes Dokument zu dienen (das heute
gebräuchliche italienische Wort für
"Nachhaltigkeit" ist "sostenibilità") - es ist
allerdings der "signore", der dieses
"sustentamento" leiste, nicht der Mensch.
Später werden "diversi fructi con coloriti
flori et herba" genannt, die "sora nostra
matre terra" (("unsere Schwester Mutter Erde")
hervorbringe. Dass der Mensch irgendeine
Verpflichtung diesen gegenüber habe, wird
nicht einmal angedeutet.
Interessant
ist der Sonnengesang als Dokument einer
kurzzeitigen Offenheit des Christentums für
naturmystische Traditionen, wie wir sie auch von
Hildegard von Bingen kennen, die 100 Jahre vor
Franz von Assisi gewirkt hatte. In seiner
Allgemeinheit kann der Sonnengesang jedoch -
anders als etwa der zweitausend Jahre ältere
"Hymnus an die Erde" aus der Atharvaveda - nicht
zur Begründung ökologischer
Handlungskonzeptionen herhalten. Lediglich eine
sehr diffuse "Bewahrung der Schöpfung" lässt
sich ableiten. Die hagiographische Überlieferung
(etwa die "Vogelpredigt" aus der Legenda Maior
Sancti Francisci des Bonaventura) behauptet
zwar, dass Franziskus auch ein besonderes
Verhältnis zu Tieren und Pflanzen hegte. Doch
nach den bestätigten Zeugnissen ging es ihm und
seinen Mitbrüdern und Mitschwestern vorrangig um
soziale Anliegen, Hilfe für die Armen und
Kranken in der Nachfolge Christi, und um die
Lehrarbeit für ein unmittelbar bevorstehendes
Reich Gottes auf Erden.
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Christianisierung des Bergbaus
Die auch
gegenwärtig noch wirksame Trennung des
Wissenschafts- und Bildungssystems im 19.
Jahrhundert in zwei Bereiche, den der "exakten"
und "wertneutralen" Naturwissenschaften und den
der "wertorientierten"
Kultur-/Geisteswissenschaften lässt uns noch
immer etwas ratlos, wenn wir vor geschichtlichen
Zeugnissen stehen, die solche Trennung nicht
kennen oder akzeptieren, die vermengen, was wir
gerne geschieden sähen - sofern nicht politische
und/oder ethische Anliegen eine Zusammenführung
bedingen.
Ein Beispiel für
diese "Vermengung" zeigt sich in Leben und Werk
des romantischen Dichters Novalis, der als
Friedrich von Hardenberg auch Bergbauassessor an
der Salinendirektion in Weißenfels war (der sein
Vater als Direktor vorstand). Hardenberg hatte
an der zu seiner Zeit berühmten Bergbau-Akademie
in Freiberg/Erzgebirge studiert, wo kurz nach
ihm auch Tulla, der Rheinbegradiger, einen Teil
seiner Ausbildung absolvierte. Eines seiner
bekanntesten Gedichte trägt den Titel "Maria"
und verweist uns über seine vordergründige
Dimension einer romantischen (im
gemeinsprachlichen wie im literaturhistorischen
Sinne) Marienverehrung hinaus auf die heute nur
noch wenig bekannte Begründung des modernen
Bergbaus durch die mittelalterliche
Machtentfaltung des Christentums. Insbesondere
in seinem Entwicklungsroman "Heinrich von
Ofterdingen" entfaltet Novalis eine erstaunliche
Verquickung von Bergbau, Religiosität,
Liebeskult und Identitätsbildung. Wie der
Bergbau im Umkreis von Romantik und Deutschem
Idealismus die Metaphern für die Ausbildung des
modernen Bürgertums bereitstellte, zeigt in
beispielhafter Weise der Brief Caroline von
Schlegels vom Oktober 1800 an ihren Geliebten
und späteren Ehemann Friedrich Wilhelm
Schelling: "Sieh nur Goethen viel und schließe
ihm die Schätze deines Innern auf. Fördre die
herrlichen Erze ans Licht die so spröde sind zu
Tage zu kommen."
Hartmut Böhme hat,
im Anschluss an Georg Schreiber, Udo Krolzik und
andere, darauf aufmerksam gemacht, wie lange vor
Novalis, bereits im lateinischen Mönchtum,
insbesondere bei den Benediktinern und
weitergeführt dann bei den Zisterziensern,
ineins manuelle Arbeit vom Makel der
Leibeigenentätigkeit befreit und die Nutzung der
Naturressourcen als menschliche Fortsetzung des
Schöpfungsprozesses begriffen wird. In diesem
Kontext kam dem Bergbau eine besonders prägnante
Rolle zu, wobei sich insbesondere
Zisterzienserklöster im 12. und 13. Jahrhundert
hervortaten, im Erzgebirge, in der Eifel, im
Harz und andernorts. Nicht nur Pflanzen und
Tiere, wie alttestamentarisch zugesagt, auch die
verborgenen Schätze des Planeten, Grundwasser,
Kohle und Erze, stünden zur Verfügung des
Gottesebenbildes, so die Botschaft der
christlichen Klostergründungen im Gefolge des
Heiligen Benedikt. Es ist bemerkenswert, dass
Novalis seine zentrale Figur, Heinrich von
Ofterdingen, dem legendenhaften "Sängerkrieg auf
der Wartburg" entnimmt, der um das Jahr 1200
angesetzt wird, in der Blütezeit des
mittelalterlichen Bergbaus mit seiner
christlichen Begründungsideologie. Böhme
verweist allerdings auch auf eine
charakteristische Ambivalenz in der Konzeption
eines gottgewollten und gottgefälligen Bergbaus.
"Der Gedanke der Mitarbeit an der Vollendung der
Natur verbindet sich eigenartig mit der
Auffassung der Natur als Fremde und Feindin: sie
spiegelt in der physischen Abhängigkeit des
Menschen ständig seinen Sündencharakter." (Böhme
1988, S. 69) Erst der Sündenfall hat es
notwendig gemacht, dass der Mensch der
verborgenen Schätze bedürftig ist, er sich in
einer feindseligen Naturumgebung behaupten muss.
In diesem Behauptungskampf stehen ihm Heilige
als Unterstützer zur Seite. Dabei wurden drei
christliche Frauenfiguren zu besonderen
Schutzheiligen des Bergbaus im christlichen
Mittelalter, die heilige Barbara (wegen des
Bezugs von Bergbau und Feuer), die heilige Anna
(als Erzmacherin, Rohstoff-"Mutter") und die
Gottesmutter Maria (insbesondere dem
Silberbergbau zugeordnet, als christliche
Wendung der "Terra Mater"). Sie traten an die
Stelle der vorchristlichen Besetzung des
Bergbaus mit keltischen, germanischen,
slawischen und römischen Kulten und Gottheiten
im mitteleuropäischen Bergwesens.
Lektüreempfehlung: Hartmut Böhme, Natur
und Subjekt, Frankfurt (Main) 1988
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Petrarca und die förderliche Natur
Petrarcas
Naturverhältnis ist heute bedeutsam vor allem
durch seine Besteigung des Mont Ventoux (1.912
m) in der Provence, am 26. April 1336, gemeinsam
mit seinem jüngeren Bruder Gherardo und einigen
Bediensteten. Für den Kunsthistoriker Jacob
Burckhardt zeigt sich Petrarca gerade in dieser
Bergtour als "einer der frühsten völlig modernen
Menschen" (Burckhardt 2009, S. 279). Von
Alpinisten wird Petrarca gar als Ahnherr des
Bergsteigens gepriesen. Andere feiern den Mont
Ventoux dieser Wanderung wegen als den
Geburtsort des Humanismus, so etwa der
holländische Historiker Enne Koops 2014 auf der
angesehenen Online-Plattform "Historiek".
Petrarca berichtet
von seinem epochemachenden Abenteuer in einem
Brief an den älteren Freund Francesco Diogini
vom 26.04.1336, verbunden mit zahlreichen
theologischen, historischen, philosophischen und
psychologischen Reminiszenzen und Reflexionen.
Als Begründung für sein Vorhaben nennt er zu
Beginn des Briefes "die Begierde, die
ungewöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch
Augenschein kennenzulernen". Der Berg habe ihn
seit seiner Kindheit begleitet und seit Jahren
schon habe ihn dieses Vorhaben beschäftigt.
Natur erscheint in seinem Bericht als wild und
herausfordernd, jedoch keinesfalls als
bedrohlich. Vor den - eher bescheidenen -
Bedrohungen durch spitze Felsen und
Dornengestrüpp warnt lediglich ein "uralter
Hirte", doch Petrarca und sein Bruder ignorieren
diese Warnungen und der Briefautor berichtet
dann lediglich von den körperlichen Strapazen,
von seiner Erschöpfung bisweilen, der er sich im
Blick auf das erhoffte Ziel mehr oder weniger
murrend aussetzt.
Darin liegt das
eigentliche Novum dieser Erfahrung:
Selbstüberwindung nicht auf der Ebene der
Affekte, sondern körperlicher Erschöpfung
gegenüber. Und dies nicht primär zur moralischen
Läuterung (auch wenn Petrarca seine Erfahrung in
dieser Richtung umzudeuten sucht durch Verweise
auf Bibelstellen und auf Augustinus), sondern
mit dem Ziel einer ästhetisch konnotierten
Naturerfahrung. Insofern hat schon Recht, wer in
Petrarca einen Ahnherrn des Bergwanderns sieht.
Aber "Bergwandern" steht dann für etwas anderes,
nämlich die Abkehr von einem Kasteiungsprinzip,
das den Körper zu überwinden, zu bestrafen, gar
zu negieren sucht, hin zu einem Prinzip der
Steigerung körperlicher Leistungsfähigkeit -
Ertüchtigung statt Kasteiung, um Naturgenuss zu
ermöglichen.
Petrarcas Leben
und Werk sind jedoch nicht nur über die
Besteigung des Mont Ventoux, sondern auf
vielfältige Weise und durchgängig gezeichnet
durch eine dezidierte Zuwendung zur Natur als
Rückzugsort, als Trost- und Erholungsort, als
Projektionsfläche für innere Seelenprozesse, als
historischer Vergegenwärtigungsraum - und nicht
zuletzt als Utopie einer vollständigen Existenz.
Es mag irritieren, aber der von Petrarca
skizzierte Humanismus trägt deutlich
naturreligiöse Züge und konfrontiert uns mit
einem ersten konsistenten Entwurf einer
zivilisationskritischen Zuwendung zur Natur.
Deutlich wird dies etwa in den Preisungen des
einfachen Lebens "auf dem Lande", mit denen
Petrarca seinen Rückzug an den Quellort der
Sorgue zwischen 1337 und 1353 begründet. "De
vita solitaria" liest sich streckenweise wie ein
Text der Lebensreformbewegung zu Anfang des 20.
Jahrhunderts. Tongeschirr statt Silber empfiehlt
Petrarca hier, einfache Speisen statt üppiger
Gelage. Und er fordert ein "Leben in der
Gegenwart" statt in steter "Hoffnung auf die
Zukunft", die er als Grundübel ansieht. Daher
wende er der Stadt Avignon mit ihrer Hektik und
der besinnungslosen Gier ihrer Eliten nach Geld,
Macht und Luxus den Rücken zu um sich im Tal der
Sorgue niederzulassen. "Von der Schönheit
des Ortes eingenommen, zog ich mich mit meinen
Büchern dorthin zurück" heißt es in seinem
"Brief an die Nachwelt" von 1370/71. Dahinter
stehen unterschiedliche Traditionslinien und
Einflüsse, vor allem der Preis eines einfachen
Lebens in der spätantiken Philosophie
einerseits, die autarke christlich-mönchische
Lebensführung der Reformorden andererseits.
Der weitgehend eigenständige Beitrag Petrarcas
liegt darin, einen neuen Blick auf die Natur mit
diesen Motiven zu verbinden. Und zwar einen
durchaus pragmatischen, der mit dem Sonnengesang
des Franz von Assisi wenig gemeinsam hat. In
einem seiner letzten Zeugnisse aus dem
Alterssitz in Arquà am Rande der Colli Euganei
schreibt Petrarca, er habe nun mehr Interesse an
den Kräutern seines Gartens als an seinen
Schriften.
Wir müssen Abschied nehmen von der schlichten
Annahme eines Dreischritts in der menschlichen
Naturbeziehung, wonach der Mensch zunächst im
Einklang mit der Natur gelebt habe, sich dann
mit dem zivilisatorischen Fortschritt der Natur
entfremdete um sich schließlich in der Gegenwart
wieder über ökologische Konzepte, Naturethik und
Nachhaltigkeitsdiskurs mit der Natur zu
versöhnen - auch in Reaktion auf die
Schattenseiten der Industrialisierung. Der
Mythos vom edlen Wilden im Natureinklang hat
schon länger an Kraft verloren, doch weiterhin
sind wir mehrheitlich in fortgeschrittenen
Industriegesellschaften der Überzeugung, die
Industrialisierung sei auch eine Reaktion auf
eine als feindlich erfahrene Natur (Krankheiten,
Hungersnöte, Naturkatastrophen) und ökologisches
Denken letztlich ein Überschußphänomen
entwickelter Industriegesellschaften. Petrarca
zeigt uns, dass ein positives Naturverhältnis
bereits an der Wiege des Humanismus steht. Warum
es aufgegeben wurde, können vielleicht die
Florentiner Handels- und Bankenmanager
beantworten - ihren Geschäften war es sicherlich
nicht förderlich.
Interessant ist auch Petrarcas Umgang mit den
entsetzlichen Pesterfahrungen 1348 und in den
folgenden Jahren. In "Ad se ipsum" und Briefen
an Freunde spricht er vordergründig und in der
religiösen Rhetorik der Zeit von einer Strafe
Gottes, ohne einen Strafgrund zu benennen (er
fragt gar, weshalb so oft, wenn Strafgründe
vorlägen, von Gott nicht gestraft werde) oder
sich in den üblichen Ermahnungen zu ergehen.
Vielmehr macht er deutlich, dass er die
menschliche Ohnmacht der Pest gegenüber eher auf
das Versagen der scholastischen Medizin und
astrologiegläubiger Ärzte als auf göttlichen
Ratschluss zurückführt. Eine "grausame Natur"
als Schuldige gibt es bei Petrarca nicht.
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Das Gericht der Götter über den Bergbau
Der böhmische
Humanist Paulus Niavis (i.e. Paul Schneevogel)
verfasste um 1492/95 in Zittau sein "Iudicium
Iovis", ein auch heute noch lesenswertes
Dokument der kritischen Auseinandersetzung mit
der Ökonomisierung von Natur, konkret mit dem
Bergbau. Die deutsche Übersetzung durch Paul
Krenkel, "Das Gericht der Götter über den
Bergbau", macht deutlich, worum es geht.
Publiziert wurde die Übersetzung 1953 durch die
Bergbau-Akademie Freiberg.
In der Rahmenhandlung wandert ein Eremit durchs
Erzgebirge, seiner Silbervorkommen wegen im 15.
Jahrhundert Ort eines großen "Berggeschreys",
das zu goldrush-ähnlichen Verhältnissen führte,
mit erheblichen Schädigungen für Luft, Boden,
Wasser, Menschen, Tiere und Pflanzen. Das beim
Silberabbau eingesetzte Quecksilber vergiftete
die Umwelt und die Bevölkerung der Region auf
Generationen hinaus. Der Mönch nun schaut in
einer Vision ("mirabilis visio") eine
erstaunliche Gerichtsverhandlung, die den
"sterblichen Menschen" anklagt wegen seiner
Vergehen am Schneeberg und andernorts durch die
Anlage von Bergwerken, der Tatvorwurf lautet:
"Muttermord" (matricidius).
Vor dem Thron Jupiters als Richter tritt als
Klägerin die Mutter Erde ("Terra Mater") auf,
anwaltlich vertreten durch Merkur. Zeugen der
Anklage sind (in der Reihenfolge ihres
Auftritts) Bacchus, Ceres, Minerva, Pluton, eine
Najade, Charon und eine Gruppe von Faunen.
Bemerkenswert, wie Schneevogel hier griechische
und römische Götter/Göttinnen/Nymphen neben- und
miteinander agieren lässt. Der Unterschied
zwischen griechischer und römischer Antike auch
in der Götterwelt war den Humanisten natürlich
bewußt. Worum es hier geht ist die gemeinsame
Frontstellung der Antike gegen die anbrechende
Neuzeit, genauer: gegen konkrete Missstände in
dieser Neuzeit.
"Terra Mater" trägt ein zerfetztes Gewand, ihr
Leib ist "durchbohrt, verwundet und
blutüberströmt" (Niavis 1953, S. 16) - der
Anklang der Leidensgeschichte Christi ist
unüberhörbar. Die von Merkur und den anderen
Gottheiten und Geistern vorgetragene Anklage
bezieht sich insbesondere auf das Abpumpen
unterirdischer Wasservorkommen, das Wein- und
Ackerbau schädige, die Umleitung von Gewässern,
die Verlärmung der Landschaft durch die
Belüftungspumpen, Waldzerstörung durch
Abholzungen und Köhlerei. "Terra Mater" werde
dadurch im Innersten geschädigt. Die Parallelen
zum "Hymnus an die Erde" der Atharvaveda sind
augenfällig.
Die Verteidigungsrede des Menschen, unterstützt
durch die Penaten (römische Schutzgeister des
Hauswesens), beklagt die "Mutter Erde" als
"Stiefmutter", die dem Menschen ihre größten
Schätze vorenthalten möchte (Niavis 1953, S.
20). Insbesondere wird vorgebracht, dass der
Bergbau den Handel (durch Münzgeld) erleichtere,
die menschliche Kultur (einschließlich der
Religion) entwickle und Menschen auch in weniger
fruchtbaren Landschaften das Überleben
ermögliche. Mehrmals wird darauf hingewiesen,
dass doch Jupiter den Menschen die Erde zu ihrem
Nutzen übergeben habe und von ihnen erwarte,
dass sie sich auf dem ganzen Planeten
ausbreiten. Diese Passagen nehmen erkennbar
Bezug auf die entsprechenen Stellen im 1. Buch
Mose (vgl. Niavis 1953, S. 21). Also lange vor
der Industrialisierung, lange vor der
Reformation und auch noch vor René Descartes und
Francis Bacon wird hier hier die Grundlage
formuliert für jenes Verständnis von "Macht euch
die Erde untertan", das heute als das moderne
technisch-industrielle Naturverhältnis
beschrieben wird.
Jupiter überlässt den Urteilsspruch der Fortuna
- als "Königin der Sterblichen". Fortuna
erklärt, dass die Menschen nicht anders könnten,
als sie tun, das sei ihre Bestimmung. Damit aber
würden sie sich selbst zerstören, wobei sie -
"was sehr gut ist" - gar nicht das Ausmaß der
Gefahren erkennen, denen sie sich aussetzen
durch ihr Werk (Niavis 1953, S. 38). Woran
Niavis dabei dachte, ist uns nicht bekannt. Aber
hingewiesen sei nur darauf, dass das im
Silberbergbau massiv eingesetzte hochgiftige
Quecksilber im Mittelalter noch als Heilmittel
eingesetzt wurde.
Nebenbei bemerkenswert ist der Hinweis auf
andere Bergbaugebiete im 15. Jahrundert ("in
Sizilien, in Portugal, in Arabien, in dem zu den
Alpen gehörigen Etschlande, in Böhmen und jetzt
auch ... im Gebiet des Meißner Landes" - S. 16)
sowie eine ermahnende Zitation des
Prometheus-Mythos (S. 17). Anders als seinem
Übersetzer war Niavis wohl auch noch bekannt,
dass der Kaukasus ein bedeutendes Erzabbaugebiet
der Antike war.
Lektüreempfehlung: Paulus Niavis, Iudicium
Iovis oder Das Gericht der Götter über den
Bergbau, Berlin: Akademie-Verlag, 1953
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"Natura naturans" und menschliches Glück
Der Beitrag Spinozas (1632-1677) zur
Kulturgeschichte von Technik und
Naturbeherrschung wird im Allgemeinen mit der
Formel "deus sive natura" sinnfällig gemacht,
verstanden als "Gott=Natur". Spinoza liefere
damit die philosophische Begründung für einen
rücksichtsvollen Umgangs mit der Natur als
Vergegenwärtigung Gottes. So führt dies etwa
Ulrich Grober in "Die Entdeckung der
Nachhaltigkeit" aus (Verlag Antje Kunstmann
2010). Grober stellt das "Modell Spinoza" neben
das "Modell Descartes". Descartes schränke den
Herrschaftsanspruch des Menschen ("nous rendre
comme maistres & possesseurs de la Nature" -
Descartes, Discours de la méthode, 1902, S. 63 -
"Sixiesme Partie") nach Grober lediglich ein
durch das von Descartes im gleichen Kontext
genannte Ziel seiner Philosophie, die
"conseruation de la santé" (ebd.). Wobei
Descartes dabei erkennbar nur die Gesundheit des
Menschen meint, nicht auch eine "intakte
Umwelt", wie Grober spekuliert (Grober 2010, S.
71). Spinoza dagegen habe, so Grober, dem
Herrschaftsanspruch des Menschen über die Natur
das theologische und philosophische Fundament
entzogen. "Gegenüber Descartes' Inthronisierung
des Menschen als Meister und Besitzer der Natur
beharrt Spinoza darauf, dass der Mensch
ebenfalls Teil der Natur sei." (Grober 2010, S.
73).
Spinozas "deus, seu natura" ist in der Tat als
Gleichsetzung von ihm verstanden, wie die
entsprechende Passage in seiner erst posthum
veröffentlichten "Ethik" mit den Verbformen im
Singular klar macht: "Ratio igitur, seu causa,
cur Deus, seu Natura agit, & cur existit,
una, eademque est." (Ethik, Teil IV, Vorwort,
Reclam-Ausgabe 1977, S. 438). Die damit
formulierte pantheistisch-naturalistische
Position bedeutet allerdings keinesfalls blank
eine Absage an menschliche
Naturbeherrschungsansprüche, sowenig sie einem
Löwen untersagt, andere Tiere aufzufressen. Sie
blockiert zunächst nicht einmal die Möglichkeit,
mit Verweis auf eine Gottesebenbildlichkeit des
Menschen zu operieren. Denn warum sollte der
Mensch nicht in Analogie nun zur Schöpfungskraft
der Natur/Gottes tätig werden? Immerhin erwartet
Spinoza vom Menschen, dass er die Einheit seines
Geistes mit der Natur begreife ("Abhandlung über
die Verbesserung des Verstandes" - Einleitung,
Absatz 13) - und damit zum Glück gelange.
Spinoza unterscheidet an der Natur im Anschluss
an die scholastische Tradition im ersten Teil
der "Ethica" die "natura naturans" von der
"natura naturata" - beide zusammen machen
Gott/die Natur aus. Die auf Aristoteles
zurückgehende Unterscheidung finden wir in den
Aristoteles-Übersetzungen und Kommentaren von
Averroës und Michael Scottus im 12. Jahrhundert.
Die "natura naturans" wurde in der Scholastik
verstanden als Schöpfergott und scharf getrennt
von der "natura naturata", der Schöpfung mit den
Geschöpfen. Spinoza hebt diese Unterscheidung
auf. Damit schafft er ein System, innerhalb
dessen alle menschliche Produktion letztlich
Schöpfung Gottes ist und damit vollkommen.
Realität und Vollkommenheit sind für Spinoza ein
und das selbe, "per realitatem, &
perfectionem idem intelligo" (Ethica Pars II,
Definitiones VI). Alle menschlichen Fähigkeiten
sind nichts weiter als Teil der "natura
naturata", explizite gilt dies auch für den
"intellectum" (Ethica Pars I, Propositio XXXI).
Auch der Mensch kann also nicht selbst wahrhaft
schöpferisch werden. Was Menschen zur Realität
bringen, bringen sie zur Realität Gottes.
Daraus ergeben sich für den Naturumgang streng
genommen fatale Konsequenzen. Auch Umweltgifte,
CO2-Frachten und Atommüll gehören zunächst
einmal zur Realität Gottes. Zumindest wenn wir
mit Spinoza bei der "Ordine Geometrico" seiner
Ethik bleiben wollen und nicht, gegen Spinoza,
seinen Ansatz konventionell ethisch
funktionalisieren zu einer Verpflichtung
gegenüber der vorgegebenen, ohne menschliche
Intervention vorhandenen göttlichen Natur. Dass
Spinoza indes keine Sollensethik, sondern eine
Strebensethik intendierte, haben Manfred Walther
und andere herausgearbeitet. Und alle
menschliche Arbeit habe sich, so Spinoza in der
Einleitung zu seiner "Abhandlung über die
Verbesserung des Verstandes" Absatz 16, der
Aufgabe menschlicher Vervollkommnung
unterzuordnen. Diese Vervollkommnung setzt
explizite keine materiellen Anliegen und Ziele.
Auch in seiner Staatslehre formuliert Spinoza
solche nicht, der Zweck des Staatslebens sei
"Frieden und Sicherheit des Lebens" ("Abhandlung
vom Staat", Kapitel 5, § 2).
"Je mehr ferner der Geist weiß, desto leichter
kann er sich selbst leiten und sich Regeln
setzen. Und je besser er die Ordnung der Natur
erkennt, desto leichter kann er sich vor
unnützen Dingen hüten." So Spinoza im Kapitel
"Die Lehre von der intellectio" seiner
"Abhandlung über die Verbesserung des
Verstandes", Absatz 40. Um Selbsterziehung ging
es dem großen Denker, nicht um Naturbeherrschung
im Äußeren - und auch nicht um eine "Bewahrung
der Schöpfung" im heutigen Sinne. Die
Selbsterziehung Spinozas hat im
umgangssprachlichen Sinne sicherlich mit
Beherrschung der - inneren - Natur zu tun,
allerdings durch Verstehen und bewusstes
Arbeiten gemäß den Gesetzmäßigkeiten der Natur.
Wir Heutigen können daraus auch einen
entsprechenden Umgang mit der äußeren Natur
ableiten, allerdings keineswegs im Sinne
haushälterischer Nachhaltigkeit oder frommer
Rücksichtnahme - denn Spinoza sah den Menschen
keineswegs in der Lage, der "ewigen Ordnung der
gesamten Natur" gefährlich werden zu können oder
auch nur nützlich zu sein (s. "Abhandlung vom
Staat" §8). Aufgeklärt pragmatisch wäre ein aus
Spinozas Denken ableitbarer Naturumgang etwa
das, was der ökologische Landbau praktiziert,
Schädlingsbekämpfung durch Nützlinge und
Ähnliches.
Spinoza selbst hat solche Ableitungen nicht
unternommen, er hatte auch wenig Veranlassung
dazu, weder aus seinem Anliegen, noch aus seiner
Zeit, die erfolgreich mit Techne (Windmühlen)
die Niederlande dem Meer abrang. Obgleich er
selbst möglicherweise zum Opfer einer
unkontrollierten Techne wurde: Seine tödlich
verlaufende Lungenerkrankung könnte auf den
Schleifstaub zurückzuführen sein, den er mit
seinem Broterwerb als Linsenschleifer einatmete.
Und doch gibt es in der "Kurzen Abhandlung von
Gott, dem Menschen und dessen Glück" eine kurze
Passage, die zeigt, dass Spinoza sich der
problematischen Dimensionen des menschlichen
Naturumgangs durchaus bewußt war. Im 24.
Kapitel, "Von Gottes Liebe zum Menschen"
schreibt er "in Kürze" zu den menschlichen
Gesetzen, dass diese übertreten werden können,
da sie nicht notwendig auch "zum Glück der
ganzen Natur" dienten, vielmehr "wohl zur
Vernichtung vieler andrer Dinge" beitragen
könnten (Absatz 5). Und dann nennt er im gleich
folgenden Absatz 6 die Bienen und den Imker, der
sie "unterhält und pflegt" als Beispiel für eine
gelingende Austauschbeziehung zwischen
Naturdingen und Mensch, in der beide
profitieren.
Zur Kenntnis nehmen müssen wir allerdings auch
eine Passage aus der Ethica, die nicht so
zimperlich mit bestimmten Naturgegebenheiten
verfährt: "Ich bestreite (...) nicht, daß die
Tiere Empfindungen haben, ich bestreite nur, daß
es deshalb verboten sein soll, sie zu unserem
Nutzen beliebig zu gebrauchen und sie so zu
behandeln, wie es uns am besten paßt; da sie ja
von Natur nicht mit uns übereinstimmen und ihre
Affekte von den menschlichen Affekten von Natur
verschieden sind". (Ethica IV, Lehrsatz 37,
Anmerkung 1) Zu verstehen ist dies als
Abgrenzung gegen das Vegetariertum, das unter
verschiedenen religiösen Gruppierungen der Zeit
in den Niederlanden, die 1648 ihre
Unabhängigkeit vom katholischen Spanien gewonnen
hatten, verbreitet war. Spinoza selbst stand den
niederländischen Collegianten nahe, die auch
enge Kontakte zu Quäkern hatten, die ab 1655 aus
England in die Niederlande kamen. Spinozas
"Kurze Abhandlung" zeigt teilweise große Nähe
zum Gedankengut der Quäker, insbesondere in der
Behandlung des Gleichwertigkeit aller Menschen
(Sechstes Kapitel: Von Gottes Vorherbestimmung,
Absatz 7).
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William Penn - Neue Welt und Europa
Die frühe
Einwanderung aus Europa nach Nordamerika hatte
häufig religiöse Hintergründe, das ist bekannt.
Insbesondere verließen protestantische
Gruppierungen ihre Heimat, weil sie dort
verfolgt wurden oder zumindest nicht die
geeigneten Rahmenbedingungen fanden für ihre
Vorstellungen einer konsequent religiösen
Lebensführung. So kamen im 17. Jahrhundert vor
allem aus England auch zahlreiche Quäker nach
Amerika. Angehörige jener Gemeinschaft, die sich
auszeichnete durch die unbedingte Überzeugung
der Gleichwertigkeit aller Menschen und eine
Haltung der Gewaltfreiheit gegenüber Menschen
und Tieren gleichermaßen. In England wurden sie
bis zur Toleranzakte des englischen Parlaments
von 1689 massiv verfolgt und zu Hunderten
ermordet - und noch in den Jahrzehnten danach
waren sie Diskriminierungen durch die
Anglikanische Kirche ausgesetzt.
Willam Penn
(1644-1718) war der einflussreichste Quäker
seiner Zeit in England, Sohn eines der reichsten
und mächtigsten Männer des Landes, des Admirals
Sir William Penn sen., der über Landgüter in
Irland mit jährlichen Einkünften im Äquivalent
von mehreren hundertausend Euro verfügte. Penn
sen. hatte Oliver Cromwell und das Parlament
unterstützt bei der Rückeroberung Irlands, aber
auch stets gute Kontakte zu den Royalisten
gepflegt. Zum Ritter geschlagen wurde er 1658
von Henry Cromwell, Sohn von Oliver Cromwell.
Nach einem Studium der protestantischen
Theologie in Paris (wobei ihm ein Empfang bei
Ludwig XIV. gewährt wurde) und einem Jurastudium
in London widmete sich William Penn jun. der
familiären Güterverwaltung und schloss sich in
den 1660er Jahren der Quäkerbewegung ("Religious
Society of Friends") an. Rasch wurde er zu einem
wichtigen Sprecher und Propagandisten der
Bewegung. In den 1670er Jahren reiste er auch
nach Holland und Deutschland (u.a. Heidelberg),
um ein Quäker-Netzwerk innerhalb Europas zu
knüpfen.
Pennsilvania, eine
der ersten nordamerikanischen Kolonien, wurde
1681 von William Penn gegründet in einem Gebiet,
das König Karl II. von England ("Merry Charles")
als Ausgleich für eine Geldschuld bei William
Penn sen. der Familie Penn überließ. Der
Koloniegründer schloß 1682 einen nur mündlich
überlieferten Friedensvertrag mit den
Delaware-Indianern, die in diesem Gebiet lebten.
Ein Vertrag, der in der Folgezeit idealisiert
wurde als "Great Treaty" und von Voltaire in
einem Brief (Vierter Brief über die Quäker)
gepriesen als einziger Vertrag zwischen
Indianern ("ces peuples") und Christen "der nie
geschworen und nie gebrochen" ("qui n'ait point
été juré et qui n'ait point été rompu") worden
sei - mythologisch überhöht zunächst in den
Bildern von Edward Hicks, dann im berühmten
Gemälde von Benjamin West 1771/72, beauftragt
von Penns Sohn Thomas.
Es ist nicht
eindeutig geklärt, ob dieser Vertrag nur eine
Art Präambel zu zwei schriftlich überlieferten,
am 23. rsp. 25. Juni 1683 unterzeichneten
Verträgen zwischen Penn und dem
Delaware-Häuptling Tamanend über Delaware-Land
darstellte. Als Gegenleistung für die
Landüberlassung vermerkt der Vertrag vom 23.
Juni "ye Consideration of so much Wampum, so
many Guns, Shoes, Stockings, Looking-glasses,
Blankets and other goods as he, ye sd William
Penn shall please to give unto me".
Die
Friedensgarantie hielt weitgehend bis zur
Forderung der Familie Penn, vertreten durch
Penns Sohn Thomas Penn, an die Delaware, ein
Gebiet von 4860 Quadratkilometer Fläche zu
räumen, das die Familie als Besitz reklamierte
und Siedlern übergeben wollte, von Ray Thompson
1973 scharf als "Walking Purchase Hoax of 1737"
kritisiert. Im Gefolge kam es im Hinterland
gelegentlich zu Übergriffen auf Siedler,
kulminierend im "Penn's Creek Massacre" von
1755, bei welchem Delaware-Indianer 24 Siedler
töteten. Das Massaker stand auch im Zusammenhang
mit dem Siebenjährigen Krieg 1754-1763, in
welchem Frankreich und Großbritannien um die
koloniale Vorherrschaft in Nordamerika kämpften.
William Penn
selbst lebte nie für längere Zeit in
Pennsylvania, sondern blieb mit seiner Familie
in England, auf den väterlichen Besitztümern. Er
warb allerdings nachdrücklich, auch in
Deutschland, um Siedler für seine Kolonie.
Seinen Aufrufen folgten neben Quäkern auch
Mitglieder anderer protestantischer
Gemeinschaften vor allem aus England und
Deutschland. Bekannt wurden insbesondere die
Mährischen Brüder, die sich allerdings erst nach
Penns Tod 1735 in Pennsilvania ansiedelten und
bald erfolgreich unter Indianern missionierten
("mährische Indianer"). 1782 kam es am Ende des
Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges zum
Gnadenhütten-Massaker durch eine Einheit der
Pennsylvania-Miliz an 96 christlichen Indianern
(28 Männer, 29 Frauen, 39 Kinder).
In
Auseinandersetzung mit der Expansionspolitik
Ludwigs des XIV. in Schottland und Irland
("Jacobite Uprising") und im sogenannten
Pfälzer Erbfolgekrieg (Zerstörung des
Heidelberger Schlosses 1689 und Sprengung
1693) schrieb Penn 1693 seinen republikanisch
gesinnten "Essay Towards the Present and
Future Peace of Europe by the Establishment of
a European Parliament". Damit markiert Penn
eine Vision von Europa als Friedensmacht, die
dezidiert religiös fundiert ist, aber auch die
naturrechtlichen Diskussionen der Zeit
aufgreift. In den Schriften Penns finden sich
auch bemerkenswerte Passagen zu einem Frieden
mit der Natur, so etwa im Kapitel "Education"
seiner Schrift "Some Fruits of Solitude, in
Reflections and Maxims relating to the Conduct
of Human Life - nebenbei so etwas wie eine
erste Skizze zu Rousseaus "Emile". Unter den
Punkten 12 bis 14 ist dort zu lesen:
12. And it
would go a great way to caution and direct
people in their use of the world, that
they were better studied and knowing in
the creation of it.
13. For how
could men find the conscience to abuse it,
while they should see the great Creator
look them in the face, in all and every
part thereof?
14. Therefore
ignorance makes them insensible; and to
that insensibility may be ascribed their
hard usage of several parts of this noble
creation, that has the stamp and voice of
a DEITY every where, and in every thing,
to the observing.
Und über den
Sinn des Umgangs mit der Natur schreibt Penn -
und wir hören auch hier bereits Rousseausche
Konzepte anklingen - unter "A Country Life":
220. The
country life is to be preferred; for there
we see the works of God; but in cities,
little else but the works of men: and the
one makes a better subject for our
contemplation than the other.
Lektüreempfehlung: William Penn, Selected
Works, Vol. II, London 1825, Rep. New York:
Kraus Reprint, 1971 - darin: "Some Fruits of
Solitude"
|
Schlaraffenland
Im
Jahr 1694 veröffentlichte der bedeutendste
deutschsprachige Kartograph der Barockzeit, der
Jurist und Verleger Johann Baptist Homann, die
Karte des "Schlarraffenlandes". Zeitgleich
erschien eine "Erklärung der Wunder-seltzamen
Land-Charten UTOPIAE, so da ist / das
neu-entdeckte Schlarraffenland", verfasst von
Johann Andreas Schnebelin. Das gemeinsame
Projekt von Schnebelin und Homann gestaltet die
satirische Verortung menschlicher Laster in
einer Topographie des Schreckens, belegt mit dem
bis dato von Thomas Morus bis Francis Bacon
positiv besetzten Begriff der "Utopie". Wobei
allerdings nicht übersehen werden sollte, dass
auch Thomas Morus bereits satirische Elemente in
seinen Roman einschleußt - ob aus eigener
kritischer Überzeugung oder um politischen
Gegnern keine Angriffsfläche zu bieten, bleibt
dahingestellt.
Im Vorwort benennt
Schnebelin seinen Hauptgegner: den allgemeinen
"Freß- oder Sauff-Discurs" für dessen Lebensstil
"ansehnliche Leute" eine klare Formel haben: "Es
gehet allda zu / wie in dem Schlarraffenland".
Und er bekennt, sein Vorwort abschließend, "daß
ich in Erfindung dieses Wercks einzig und allein
dahin gezielet habe / wie ich denen Lastern
spotten / und für denenselben einem jeden einen
Greuel und Eckel verursachen möge" (Schnebelin
2004, S. 15).
Zwei Züge bestimmen den Text. Einmal die
Tendenz, den Begriff "Utopie" dem
politisch-gesellschaftlichen Reformdiskurs zu
entziehen. Zum zweiten ein unüberhörbarer
pädagogisch-moralischer Anspruch. Mit der
Begriffsgeschichte von "Utopie" setzt der Autor
sich kenntnisreich gleich im ersten Kapitel,
"Von dem Namen Utopia und Schlarraffenland",
auseinander. Er erklärt offen, dass er den Namen
"Utopia" für ein gänzlich anderes "Concept"
verwende als etwa Thomas Morus. Und mit lindem
Spott distanziert er sich auch von einem Autor,
Alberico Gentili, der "Utopia" ähnlich wie er
negativ verwende, dabei allerdings eigene
politisch-religiöse Interessen vertrete, indem
er "das Acumen seines Ingenii an einem oder
anderen loco seines Tractätleins wider die
Anfechter seiner Protestantischen Religion etwas
zu viel geschärffet / und den Stachel seiner
Spitzfindigkeit / sonderlich dem geistigen Stand
seiner Widersacher / hat empfinden lassen." Der
moralische Anspruch wird etwa deutlich im
Kapitel über das "Chymische Irrland", wo die
Goldmacher am Werke sind. "Irrland" heiße dieses
Land "damit ein jeden zu verständigen / wie weit
die jenigen irr gehen / welche ihre Gedancken
nach einem irdischen Reichthum / so mehr den
Seelen schädlich denn nutzlich ist / eintzig und
allein richten / die / unter dem Schein viel
guts zu würcken / von dem Satan betrogen
werden". Damit möchte der Autor "allen
Religionen unpartheyisch" sein - und wir dürfen
ergänzen: auch allen politischen Richtungen, was
in der Barockzeit ohnedies weitgehend
korrespondierte. Seine "Utopia" verhöhne "allein
die Laster (...) welche alle vernünfftige Welt
hasset" (Schnebelin 2004, S. 23).
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war der
Dreißigjährige Krieg offenkundig weitgehend
vergessen, die Kameralistik hatte die Schatullen
der Fürsten wieder gefüllt, ein
verschwenderischer Lebensstil prägte nicht nur
das höfische Leben, sondern auch wohlhabendes
Bürgertum und Teile der Bauernschaft, die nach
dem Bevölkerungsverlust im Gefolge des Krieges
über größere Ländereien als zuvor verfügen
konnten - allerdings auch dem Zugriff der
Fürsten ausgesetzt war. Die Landschaft in
Mitteleuropa war ausgeräumt wie in keiner Epoche
zuvor, Wälder, sofern sie noch existierten,
dienten als feudale Jagdreviere oder
Rohstofflieferanten für Bauvorhaben und
Hüttenwesen. Diese Landschaft bot sich geradezu
an, mit einer neuen Topographie gefüllt zu
werden. Als Produkt der barocken Lachkultur war
diese Topographie keineswegs so unpolitisch, wie
sie auf den ersten Blick daherkommt. "Je
unpolitischer sich die barocke Satire nach außen
hin gab, desto unverhohlener übte sie Kritik an
der Zivilgesellschaft." So führt Franz Reitinger
in seinem ausführlichen Nachwort zu Schnebelin
2004, S. 281 aus.
Das letzte Reich ist das der Verschwender, das
letztlich auch dem ganzen Schlaraffenland seinen
Untergang bereitet. Dabei geht es allerdings nur
um die Verschwendung von Geld und Gütern. Die
Verschwendung von Naturressourcen wird nicht
thematisiert. Wenn zu Beginn des
Verschwender-Kapitels von Wald die Rede ist,
dann bleiben die Implikationen unklar: "Von
grossen Gehöltzen oder Wäldern ist in diesen
verschwendischen Landen / ausser dem
Weltbekannten Wald / das Kerbholtz genannt /
weiters keines zu ersehen" (Schnebelin 2004, S.
185f). In das Kerbholz werden Schuldenstände
eingekerbt. Das ist zu wenig, um daraus schon
einen Hinweis auf eine Holznot durch fehlende
Ressourcenschonung zu lesen. Es folgt eine
Beschreibung der Nachbarländer, des
Jugendlandes, des Greisenlandes, des unbekannten
heiligen Landes und des höllischen Reiches. Den
Abschluss des ganzen Werkes bildet ein
Vanitas-Gedicht mit der Conclusio: "Dein Hertz
im Himmel sey Der alle Lust veracht / Ist der
Gefahren frey." (Schnebelin 2004, S. 225)
Bis ins 20. Jahrhundert hinein blieb es dann bei
der negativen Besetzung der Utopie des
Schlaraffenlandes, im 19. Jahrhundert neu
geprägt durch Ludwig Bechsteins Märchensammlung
und die der Gebrüder Grimm. Eine Verschiebung in
der Bewertung erfolgte erst im Kontext des
"Wirtschaftswunders" der Nachkriegszeit. 1995
erschien eine Sonderausgabe des "Environmental
History Newsletter" mit dem Titel "Der Aufbruch
ins Schlaraffenland. Stellen die Fünfziger Jahre
eine Epochenschwelle im Mensch-Umwelt-Verhältnis
dar?" Darin geht es um die "Entwicklung zur
Verschwendungsgesellschaft". Es ist am Leitfaden
der Beschreibung des "neu-entdeckte(n)
Schlarraffenlandes" anzunehmen, dass auch die
Zeit um 1700 eine "Verschwendungsgesellschaft"
kannte, die der Autor kritisiert.
Lektüreempfehlung:
Johann Andreas Schnebelin, Erklärung der
Wunder-seltzamen Land-Charten UTOPIAE, Bad
Langensalza: Verlag Rockstuhl, 2004
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Carl von Carlowitz und die forstliche
Nachhaltigkeit
Einen
ersten relevanten Ansatz zum
Nachhaltigkeitskonzept finden wir im Hymnus an
die Erde der Atharvaveda, Entstehungszeit
zwischen 1.200 und 800 v. Chr.. Dort heißt es im
35. Vers: "Was ich von dir, o Erde, ausgrabe,
das soll schnell zuheilen. Laß mich, o
Reinigende, nicht deine empfindliche Stelle,
nicht dein Herz durchbohren!" Reduziert auf den
sachlichen Kern ist das hier Vorgetragenen
entschieden näher an dem, was wir heute
avanciert unter "starker Nachhaltigkeit"
verstehen, als die Ausführungen des sächsischen
Forstkameralisten Carl von Carlowitz 2500 Jahre
später, in seiner "Sylvicultura oeconomica" von
1713, die ihn für den Nachhaltigkeitsdiskurs zum
"Erfinder" der Nachhaltigkeit macht. Allerdings
konnte er sich auf Vorabeiten schon in der
sächsischen Forstwirtschaft sowie in der
englischen und französischen Forstökonomie
stützen, die er auf seiner "Cavalierstour"
1665-1669 kennengelernt hatte. Carlowitz sorgte
sich dabei nicht um ökologische oder
naturschützende Themen im heutigen Sinn, sondern
lediglich um den Holzvorrat. Er empfahl gar den
Gebrauch von Torf als Grundstoff für die
Köhlereien, um den Nutzungsdruck vom Wald zu
nehmen. Und dass die Bergwerke, denen er
vorstand, nicht nur den Wald bedrohten, sondern
Gewässer, Luft und Boden insgesamt, war nicht
sein Thema.
Carlowitz wollte
nicht mehr Wald schlagen, als nachwuchs. Er
empfahl eine Forstbewirtschaftung, die auf
gezielte Aufforstung, aber auch auf
Naturverjüngung setzt. Das
Anliegen des Oberberghauptmanns war, "dem
allenthalben und insgemein einreissenden Grossen
Holtz-Mangel (...) zu prospiciren" im Interesse
"nothdürfftiger Versorgung des Hauß- Bau- Brau-
Berg- und Schmeltz-Wesens". Was heute
nachhaltige Waldwirtschaft heißt, nannte er
dabei "immerwährende Holtz-Nutzung" oder
"nachhaltende Nutzung". Es bleibt unbestritten,
dass nach aktueller Datenlage Carlowitz zum
ersten Mal den Begriff "nachhaltig" (rsp.
"nachhaltend") in einem dem heute dominierenden
ökonomischen Verständnis von Ressourcenschutz
nahestehenden Sinn verwendete. In der Sache
hatte er allerdings zahlreiche Vorgänger in der
Forstwirtschaft der Barockzeit. Peter Poschlod
schreibt in seiner überaus informativen
"Geschichte der Kulturlandschaft" 2014, S. 194:
"So gilt das 16. Jahrhundert als der Beginn des
Zeitalters der Forstordnungen." Und Poschlod
macht auch deutlich, dass "forestis"
ursprünglich dem Königsrecht zugehörte und die
Verfügung über Landschaft insgesamt,
insbesondere die Wald-, Wild- und Fischnutzung,
bedeutete.
Das Putten- und
Schäferwesen der Barockkultur sollte nicht
darüber hinwegtäuschen, dass der offenen
Landschaft und den Naturbeständen in dieser Zeit
heftig zugesetzt wurde - insbesondere durch den
Bergbau und das Hüttenwesen, etwa zur
Finanzierung ausschweifender Hofhaltungen, aber
auch durch die höfische Jagd. "Nachhaltigkeit"
war in diesem Kontext (der heutigen Situation
durchaus ähnlich) ein Überlebensgebot für die
Eliten, kein Umweltschutzunternehmen im
Interesse bedrohter Tier- und Pflanzenarten. Was
Carlowitz erhalten sollte und wollte, war nur
vordergründig der Wald - es ging im Kern um die
sächsischen Silberbergwerke, deren Fortbestand
zum einen durch den spanischen Silberabbau in
Südamerika, insbesondere in Potosí/Bolivien, zum
anderen durch Holzmangel ernsthaft bedroht war.
Wie weit Carlowitz in seiner konkreten
Forstplanung über die ökonomische Notwendigkeit
hinaus ging, ist nicht bekannt. Überliefert sind
lediglich aus seiner "Sylvicultura oeconomica"
zwei ästhetisch-religiös konnotierte Äußerungen,
wonach Bäume mit der "innerlichen Form,
Signatur, Constellation des Himmels" verbunden
seien und "die grüne Farbe von denen
Blättern" unsagbar ("ist nicht zu sagen")
"angenehm" sei.
Was heute unter
den Prämissen von Klimaerwärmung und
CO2-Einsparung im Blick auf eine nachhaltige
Waldnutzung propagiert wird (kürzere
Umtriebszeiten, kompensatorische Aufforstungen,
Durchlichtung, Forcierung der Brennstoffnutzung)
hat weit mehr Parallelen im Forstmanagement der
Sowjetunion unter Stalin als im spätbarocken
Forstwesen unter Carlowitz. Eine Studie des
"KlimaCampus" der Universität Hamburg von 2010
kommt zum Ergebnis, dass nur eine straffe
Planwirtschaft mit engem Sortenmanagement,
kurzen Umtriebszeiten und regelmäßiger
Durchforstung den deutschen Wald fit machen
könne für das Jahr 2100. Das alternative Modell
einer naturbelassenen Bewirtschaftung mit langer
Lebensdauer der Bäume und reicher Biodiversität
kann vor dem analytisch-kameralistischen Blick
des "KlimaCampus" nicht bestehen.
Auch wenn es sicherlich überzogen ist, der
Forstwirtschaft die "Erfindung" der
Nachhaltigkeit zuzuschreiben, so kommt ihr doch
sicherlich das (strukturell bedingte) Verdienst
zu, das kameralistische Prinzip des "verbrauche
nicht mehr, als du erwirtschaftest" erstmals auf
ein menschliches Naturverhältnis übertragen zu
haben.
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Der Blütenpreis des Barthold Heinrich Brockes:
"Den Schöpfer im Geschöpf zu preisen"
Das bekannteste
Gedicht des Barthold Heinrich Brockes,
"Kirsch-Blühte bey der Nacht", wurde 1727
erstmals veröffentlicht, im zweiten Band der
neunbändigen Sammlung "Irdisches Vergnügen in
Gott", erschienen 1721-1748. Der Sammlungstitel
steht für ein barockes Programm, das in den
Naturdingen emblematische Verweise auf eine
transzendente Wirklichkeit sah. Das Titelblatt
konkretisiert den Inhalt als "bestehend in
Physicalisch- und Moralischen Gedichten" - womit
neben dem sittlich-moralischen Anspruch auch ein
frühaufklärerisch-naturkundliches Anliegen
formuliert wird.
Barthold Heinrich
(auch Bertold Hinrich) Brockes (1680-1747) steht
am Übergang von der Barockzeit zur Aufklärung.
Der Sohn eines vermögenden Hamburger Kaufmanns
pflegte früh einen am Adel orientierten
Lebensstil, nahm Unterricht in Tanzen, Fechten,
Reiten und in französischer Sprache. 1700-1702
studierte er in Halle (Saale) Jura und
Philosophie. Nach einigen Reisen widmete er
sich, zurück in Hamburg,
literarisch-philosophischen Studien und dem
Schreiben. Ab 1720 war Brockes in verschiedenen
politisch-administrativen Ämtern tätig, zunächst
als Ratsherr und Senator Hamburgs, zuletzt als
Erster Landherr von Hamm und Horn. Als Autor hat
er einerseits noch Teil an der "memento mori"-
und "Vanitas"-Rhetorik des Barock und dessen
idyllisierender Naturkonzeption, andererseits an
einem analytisch-deskriptiven Blick auf
Naturphänomene, wie er dann das 18. Jahrhundert
prägen sollte.
"Kirsch-Blühte bey
der Nacht" wird dominiert von der "moralischen"
Dimension. Die Schönheit und "Weiße" der
Kirschblüte wird überboten von der "Weiße" eines
Sterns und in dieser Linie wird Gott selbst
evoziert. Vorausgegangen ist in der Sammlung der
Text "Blühende Pfirsiche und Aprikosen", es
folgt "Noch einige Betrachtungen der Blühte".
Beide Gedichte entfalten am Beispiel
verschiedener Nutzpflanzen eine äußerst
detaillierte phänologische Analyse der Blatt-
und Blütenknospen und ihrer Entwicklung. Auch
erste Hinweise auf den Stoffwechsel der Pflanze
werden bereits formuliert. Der
theologisch-moralische Gehalt wird in der
berühmten Wendung "Den Schöpfer im Geschöpf zu
preisen" (in "Noch einige Betrachtungen der
Blühte") angesprochen.
Die drei Texte
entfalten in verschiedenen Anläufen ein
Naturbild, das in der Forschung als
"pantheistisch" charakterisiert wird. In unserem
Kontext ist vor allem relevant, dass Brockes
hier einen ästhetisch-theologisch begründeten
Eigenwert der Natur konstatiert und dies im
Kontext des menschlichen Nutzens (im Vordergrund
stehen Nutzpflanze, Obstgehölze).
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"Verdi prati, selve amene, perderete la beltà"
- Händels "Alcina" und die Entzauberung der
Natur
Ruggiero, der im
Zaubernetz Alcinas gebannte Held in Georg
Friedrich Händels 1735 erstmals aufgeführter
Oper "Alcina", wird durch die Liebe seiner
Partnerin Bradamante frei gemacht von seiner
Verstrickung. Die Versöhnung der beiden
Liebenden mündet am Ende des 2. Aktes in die
große Arie "Verdi prati" des Ruggiero, eine
Sarabande.
Verdi prati,
selve amene,
perderete la
beltà.
Vaghi fior,
correnti rivi,
la vaghezza, la
bellezza,
presto in voi si
cangerà.
Verdi prati,
selve amene,
perderete la
beltà.
E cangiato il
vago oggetto,
all'orror del
primo aspetto
tutto in voi
ritornerà.
Was hier geschieht, ist eine eigenartige
Verkehrung dessen, was in der höfischen Kultur
der Barockzeit für das Verhältnis Liebe-Natur
galt. Liebe war verbunden mit dem "locus
amoenus" (vgl. "selve amene"), dem zauberhaften
Platz, einem idyllischen Paradiesgarten, mit
Blumen, Düften, formenreichen Pflanzengestalten
- gebannte, dem Menschen zugerichtete,
inszenierte Wildnis. Und nun kommt ein
Liebender, der gerade befreit wurde aus den
Fängen einer amor fou, der zurückgefunden hat zu
seiner Geliebten, und singt nach der
versöhnenden Umarmung: "Ihr grünen Wiesen, ihr
lieblichen Wälder, ihr verliert nun eure
Schönheit." Vordergründig nimmt
Ruggiero hier nur Abschied von einer Insel,
deren Naturschönheiten er als Teil eines
Gespinstes aus Lug und Trug durchschaut. Doch
Jan Assmann hat schon darauf hingewiesen, dass
diese Arie von äußerster Schlichtheit sei und
zugleich in der von Händel stets in besonders
bedeutsamem Kontext eingesetzten Tonart E-Dur
verfasst. Dies verweist uns auf einen Gehalt,
der tiefer geht. Der "orror del primo aspetto"
thematisiert in der Tat mehr als nur die
Aufklärung Ruggieros. Aufgeklärt wird hier über
den im Barock kulturell geleugneten
schöpferischen Eigenwert der Natur.
Hier wird Abschied genommen vom höfischen
Naturbild der Barockzeit, welche parallel zur
immensen Naturzerstörung durch die
Jagdleidenschaft der Fürsten und den Aufstieg
des Hüttenwesens kokette Schäferidyllen pflegte
und Natur inszenierte als Schauplatz für
Tändelei. Händels Freund und Kollege Georg
Philipp Telemann hatte in Magdeburg einen
ansehnlichen Zierpflanzengarten, den er auch
durch Händel beliefern ließ. "(W)enn man mir die
Wahrheit sagt, so werden Sie die besten Pflanzen
von ganz England erhalten" schrieb dieser aus
London in einem Brief von 1750 an den Freund.
Der Garten wird nun nicht mehr in den Dienst der
höfischen Verführung gestellt, sondern ist Teil
bürgerlicher Emanzipation. Ruggieros Arie steht
an der Wiege einer neuen Gartenkultur, die unter
anderem den "Englischen Garten" hervorbrachte.
Alcina wurde entmachtet und der "orror del primo
aspetto" der Natur zeigt den Weg zu einer neuen
Form des Naturumgangs.
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Das Erdbeben von Lissabon und die
unerschütterliche Aufklärung
Am Morgen des 1.
November 1755, während der Gottesdienste zum
Fest Allerheiligen, zerstörte ein Erdbeben der
Stärke 9 Lissabon. Viele Einwohner flüchteten
sich zum Hafen, dem größten gebäudefreien Platz
der Stadt. Doch dem Beben folgten Flutwellen von
bis zu 15 Metern Höhe, die über die Mündung des
Tejo in den Hafen und die Stadt eindrangen.
Zahlreiche Nachbeben und eine mehrere Tage
andauernde Feuersbrunst brachten weitere
Zerstörungen. Die Feuersbrunst wurde durch
verlassene Herdfeuer und umgestürzte Kerzen in
den festlich erhellten Kirchen ausgelöst.
Zwischen 60.000 und 100.000 Einwohner starben in
der Katastrophe und 85% des Gebäudebestandes
wurden zerstört. Das Beben war in weiten Teilen
Europas deutlich zu spüren, unter anderem wurde
von ungewöhnlichen Wellen im Hamburger Hafen
berichtet.
Das Erdbeben gilt
als Menetekel der Aufklärung, vergleichbar dem
Untergang der Titanic in seiner Bedeutung für
das Industriezeitalter. Zum 250. Jahrestag
titelte die NZZ: "Lissabon 1755 - das Erdbeben,
das die Welt veränderte". Und Jürgen Wilke fasst
in einem Beitrag für das Online-Magazin EGO vom
18.12.2014 die allgemeine Einschätzung wie folgt
zusammen: "Vielmehr beeinflusste das Ereignis
das europäische Denken nachhaltig und untergrub
den philosophischen Optimismus der Aufklärung,
den Glauben an die göttliche Vorsehung und die
Überzeugung, in der besten aller möglichen
Welten zu leben."
Doch so wenig der
Untergang der Titanic über die Produktion
erbaulicher und ermahnender Traktate und seine
Verwendung als technologiekritisches Symbol
hinaus einen relevanten Einfluss auf die
gesellschaftliche und technologische
Weiterentwicklung hatte, so wenig konnte das
Erdbeben von Lissabon die gesellschaftliche
Entwicklung entscheidend beeinflussen. Weder
wurde die spanische und portugiesische
Kolonisation Mittel- und Südamerikas gestoppt
oder auch nur gemäßigt, noch verlor die
Aufklärung ihren Zukunftsoptimismus. Ganz im
Gegenteil wurde der Wiederaufbau Lissabons zu
einem Triumph des neuen Geistes, das
mittelalterliche Lissabon verschwand und machte
einer modernen Metropole Platz. Manager der
Katastrophe war Sebastián José Carvalho e Melo,
später ernannt zum Marques de Pombal, der
innerhalb eines Jahres die Trümmer beseitigen
ließ und den Neuaufbau inszenierte. Im Zuge
seiner Tätigkeit wurde er auch zum Begründer der
modernen Seismologie.
Als
Argumentationshilfe in den intellektuellen
Debatten der Zeit wurde das Erdbeben allerdings
intensiv eingesetzt. So nutzte Voltaire das
Ereignis um gegen die Konjunktur der
Leibnizschen "prästabilierten Harmonie"
anzugehen. Dass er hierzu auch anderes Material
zur Verfügung hatte, nicht auf das Erdbeben
angewiesen war, zeigt sein "Candide" von 1758,
in welchem das Erdbeben zwar vorkommt, aber eine
eher untergeordnete Bedeutung einnimmt im
unmittelbaren Kontrast mit den
Leidensgeschichten Kunigundens und "der Alten" -
mit Leiden nicht an zufälligen Naturereignissen,
sondern an menschlicher Bosheit.
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Die Abschaffung
des Unfalls im Deutschen Idealismus
Martina
Heßler
nennt das umfassende Vertrauen
hochindustrialisierter Gesellschaften in die
technische Lösung aller menschheitlich
relevanten Probleme in ihrer "Kulturgeschichte
der Technik" von 2012 im Anschluss an Günther
Anders das "Paradigma des reibungslosen Ablaufs"
(S. 188). Zu diesem Paradigma gehören sowohl die
Ausblendung technischer Versagensmöglichkeiten
wie auch die Ausblendung des Faktors Mensch. Der
Faktor Mensch wird dabei nicht nur in den
Unfallursachen, sondern auch in den
Unfallkonsequenzen weitreichend ignoriert.
Soziale Folgekrisen sind nicht ernstlich
vorgesehen in den gängigen Konzepten zur
Unfallbewältigung. Hysterien, Plünderungen oder
religiöse, ethnische, soziale Aufladungen von
Krisen im Gefolge technischer Katastropen werden
- entgegen der Faktizität aktueller Ereignisse -
für zunehmend unwahrscheinlicher gehalten, da
sie durch technische und soziale
Weiterentwicklung handhabbar seien (Heßler 2012,
S. 180ff).
Einen reibungslosen Ablauf insbesondere im
Naturgeschehen verspricht in den
monotheistischen Religionen die Konzeption des
allwissenden, allmächtigen Gottes. Judentum,
Christentum und Islam haben sich entsprechend
abgearbeitet an der Frage nach der Theodizee,
man denke etwa an die Debatten nach dem Erdbeben
von Lissabon 1755. Verweise auf menschliche
Schuld, auf den Sündenfall, auf die Präsenz des
Bösen in der Schöpfung waren insbesondere mit
der christlichen Auffassung eines treu
sorgenden, gnädigen, verzeihenden Gottes schwer
vermittelbar. Papst Benedikt XVI. stellte die
Theodizee-Frage am 28. Mai 2006 bei seinem
Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz erneut
für die Gegenwart, und er bezog sich dabei neben
Auschwitz auch auf die Katastrophe in Fukushima.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling formuliert in
seiner Freiheitsschrift von 1809 - mit
Fragezeichen versehen - die Auffassung, dass die
Tätigkeit des Menschen "selbst mit zum Leben
Gottes gehöre". Naturgeschichte als
Entwicklungsgeschichte des Geistes führe über
den Menschen zur Aufhebung der Natur in Geist,
in der bekannten Schellingschen Formulierung zum
Ende seiner Einleitung in die "Ideen zu einer
Philosophie der Natur" von 1797 : "Die Natur
soll der sichtbare Geist, der Geist die
unsichtbare Natur sein. Hier also, in der
absoluten Identität des Geistes in uns und der
Natur außer uns, muß sich das Problem, wie eine
Natur außer uns möglich sei, auflösen." In einem
Brief an Eberhard Friedrich von Georgii Ostern
1811 schreibt Schelling von der "Überzeugung
einer wirklichen Einheit Gottes und der Natur",
"kraft der sie (die Natur - H.Sch.) nicht blos
als ein Fehlerhaftes oder Hervorgebrachtes,
sondern auf eine eigentlichere und persönlichere
Weise zu ihm (Gott - H.Sch.) gehört". Diese
Überzeugung sei "der wahre Vollendungspunct
menschlicher Wissenschaft". "Natur" wird dabei
nicht sehr präzise bestimmt, von Spinoza her
denkt Schelling sie weitgehend als "natura
naturans", doch im "Hervorgebrachten" steckt
natürlich auch die "natura naturata". Zum
Verhältnis der beiden gibt Schelling einen
anfänglichen Aufschluss in einem Fragment aus
dem Nachlass, wo er als "das Ziel aller
Sehnsucht das vollkommen Leibliche als Abglanz
des vollkommen Geistigen" benennt. Die dahinter
stehende Problematik im neuzeitlichen
Subjekt-Welt-Verhältnis ist die von Zufall und
Zweckmäßigkeit, wie sie Reiner Wiehl in seiner
Erörterung des Verhältnisses von Kant zu Spinoza
herausarbeitet (Manfred Walter, Spinoza und der
deutsche Idealismus, 1991, S. 15ff).
Wir haben bei Schelling eine erstmals
philosophisch stringent ausgearbeitete Variante
der Auffassung von der Mitwirkung des Menschen
am Schöpfungswerk vor uns, wie sie in den
Sintflut-Mythen bereits anklingt und dann im
Christentum entfaltet wird durch die
Mönchsbewegung des Mittelalters. Theoretisch
fassbar wird diese Auffassung zunächst im
Renaissancehumanismus. Hanna-Barbara
Gerl-Falkovitz umreißt in "Die zweite Schöpfung
der Welt" 1994 die Stellung des Menschen für die
Renaissance wie folgt: Er sei "die Vollendung
der unvollendeten Schöpfung und in erster Linie
seiner selbst" (S. 51). Gerl-Falkovitz
unterscheidet dabei nicht in die Konzepte
"entwicklungsoffene Fortsetzung der Schöpfung",
"Vollendung der Schöpfung" und "Zweite
Schöpfung".
Bei Schelling (wie ähnlich auch bei Hegel)
finden wir einen naturgeschichtlichen
Abschlussgedanken formuliert, der uns heute -
nicht zuletzt durch Darwin und seine Nachfolger
belehrt - fremd ist. Doch vor seinem Hintergrund
wird deutlich, auf welch dürftigem
Reflexionsniveau das Vertrauen in technische
Problemlösungen, das letztlich an
kulturgeschichtlich geprägten Abschlusskonzepten
wie denen des Deutschen Idealismus parasitiert,
angesiedelt ist.
Martina Heßler,
Kulturgeschichte der Technik, Campus 2012
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Träume vom
Friedensreich
Der
Quäkerprediger und Kunstmaler Edward Hicks
(1780-1849) gestaltete das
Motiv des "Peaceable Kingdom" - mit Bezug auf
das 11. und das 65. Kapitel des biblischen
Buches Jesaja - zwischen 1816 und 1849
wiederholte Male. Erhalten sind 62 Varianten
(wobei die Zuschreibung der ersten Realisierung
von 1816/18, der erst 1822 weitere folgten,
umstritten ist). Rechts im Vordergrund ist stets
Hicks Deutung von Jesaja 11,6-8 zu sehen, das
friedliche Zusammenleben von Raubtieren und
Weidetieren, mit einem oder mehreren Kindern.
Dabei ist der Bezug zu Konflikten innerhalb der
Quäkergemeinschaft/Society of Friends
offenkundig. Die Raubtiere Wolf, Leopard, Bär
und Löwe stehen für die vier Temperamente und
für bestimmte Neigungen, die nach Hicks
Auffassung das Zusammenleben der Quäker
beeinträchtigten, insbesondere die Geldgier, die
dem Bären (Phlegmatiker) zugeordnet wird von
Hicks, auch in seinen überlieferten Vorträgen
und Schriften. Geldverleih und Zinsgeschäfte
betrachtete Hicks als die ernsthafteste innere
Bedrohung des Quäkertums. Dies korrespondiert
mit der existentiellen Bedeutung, die diese
Bereiche für das Siedlungswesen hatten. Schon
die Gründung Pennsylvanias verdankte sich einem
Kapitalgeschäft der Familie Penn, und die
Quäkerbewegung selbst war eng mit
Kapitalgeschäften verbunden, so sind etwa
Barclays, Lloyds und Friends Provident/Friends
Life Quäker-Gründungen.
Im Hintergrund zeigt Hicks die
Landschaft von Pennsylvania. Auf fast allen
Bildern ist in dieser Landschaft eine Gruppe
von Menschen zu sehen, zumeist in einer
Darstellung des Vertragsabschlusses
zwischen William Penn und den Delaware
1682/83. 1829/30, nach der Spaltung der Quäker
in Pennsylvania 1827 in Hickianer (Hicksites -
orientiert an Elias Hicks, Cousin des Malers,
mit einer Betonung der eigenen inneren
Christuserfahrung) und Orthodoxen
(Schriftorientierung), malte Hicks einige
Bilder mit einer Gruppe von Quäkern links im
Mittelgrund auf dem bildhaft dargestellten
"Weg zum Licht", mit einem Schriftband, auf
welchem zentral "Peace on Earth" zu lesen ist.
Wie er in
seinen "Memoires of the life and religious
labors of Edward Hicks" (publiziert 1851)
ausführt, sah Hicks in William Penns
Begründung von Pennsylvania das "golden
age of the best government under heaven"
angebrochen (Hicks 1851, S. 228).
Für die Quäker waren Indianer
gleichberechtigte Menschen, nicht einem
feindlichen Tierreich näherstehende Wilde, wie
für den Großteil der sonstigen europäischen
Siedler. Grundsätzlich betrachteten die Quäker
den "äußeren" Menschen als integrierten Teil
des Tierreiches. Auch was den "inneren"
Menschen, seine Verbindung mit Gott im
"inneren Licht", betrifft, gab es unter den
frühen, an Erfahrung und Empfinden
orientierten Quäkern, verbreitet die
Auffassung, dass ihn dies nicht wesentlich von
Tieren unterscheide, dass auch Tiere mit dem
"inneren Licht" begabt seien.
Unterdrückerische Herrschaftsausübung war den
frühen Quäkern grundsätzlich suspekt, dies
galt auch für das Verhältnis Tieren gegenüber.
"In general, the Society opposed oppression,
including abuse of animals." (Weekley 1999, S.
64) Diese Haltung und Auffassung dürfte den
Duktus der Hickschen Bilder vom "Peaceable
Kingdom" mit geprägt haben.
Geboren wurde
Edward Hicks im östlichen Pennsylvania. Seine
Eltern waren Mitglieder der Anglikanischen
Kirche. Im Glauben der Quäker wurde er von
seiner Ziehmutter erzogen, nachdem seine Mutter
früh verstorben war. 1803 trat Hicks der
Quäker-Gemeinschaft bei, seinen Lebensunterhalt
bestritt er als Kutschen-Maler und mit sonstiger
Schmuck- und Gebrauchsmalerei. Ab 1812 gab er
die Malerei weitgehend auf und reiste als
Prediger im Auftrag der Gemeinschaft durch das
Gebiet von Philadelphia, allerdings führten ihn
finanzielle Probleme bald wieder zurück zur
Malerei.
Hicks malte seine
Bilder vom "Peaceable Kingdom" zu einer Zeit,
als in den drei Seminolenkriegen (1817-1858) der
letzte organisierte indianische Widerstand
brutal (auch von Militärangehörigen kritisiert)
gebrochen wurde und im "Trail of Tears" 1838 die
indianischen Stämme des nordamerikanischen
Südostens umgesiedelt wurden in unfruchtbare
Reservate. Im gleichen Jahr 1838 wurden auch die
Indianer des Nordostens, darunter die Delaware,
umgesiedelt. Während Hicks die Pennsche Utopie
in Bildern propagierte, schrieb Henriette
Frölich im fernen Berlin ihren sozialutopischen
Roman "Virginia oder die Kolonie von Kentucky"
(1819). Darin reist die Heldin in eine
Quäkerkolonie. "Ich stimme den meisten ihrer
Grundsätze und Einrichtungen mit inniger
Überzeugung bei, kann aber durchaus nicht
begreifen, warum der Geist der Fröhlichkeit
damit unvereinbar sein sollte." (Frölich 1963,
S. 129) Das Thema der Auswanderung nach Amerika
beschäftigt auch Goethes Wilhelm Meister, dem im
Roman allerdings heimatverbunden zugerufen wird
"Hier oder nirgends ist Amerika".
Abbildung: Edward Hicks, Peaceable Kingdom,
1826, Ausschnitt - ein Klick führt zum ganzen
Bild
Lektüreempfehlung: Carolyn J.
Weekley, The Kingdoms of Edward Hicks. New York:
Abrams, 1999
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Der Natur helfen auf ihrem Weg - die
Rheinbegradigung durch Tulla
Johann
Gottfried Tullas Vater war Pfarrer, bei Tullas
Geburt 1770 in Nöttingen (heute Ortsteil von
Remchingen), später in Grötzingen, dann in
Britzingen und schließlich in Rüppurr. Der Vater
war offenkundig über seinen Pfarrdienst hinaus
interessiert und engagiert. Er verfasste eine
religionspädagogische Handreichung, eine
Geschichte des markgräflichen Hauses
Baden-Durlach sowie eine geographische
Datensammlung Württembergs. Etwa zeitgleich
entwickelten Theologiestudenten am Tübinger
Stift den Idealismus Kants weiter, unter ihnen
zwei Jahrgangsgenossen Tullas, Friedrich
Hölderlin und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Von
Tullas Vater war zunächst vorgesehen, dass auch
Johann Gottfried Pastor werde - dessen
außergewöhnlichen Schulleistungen in Mathematik
und in den naturwissenschaftlichen Fächern
bahnten dann aber einen anderen Bildungsweg,
sonst hätten wir ihn vielleicht auch am Tübinger
Stift gesehen. Während seiner Ausbildung
verfehlte Tulla dann um eineinhalb Jahre die
Begegnung mit dem Dichter und Philosophen
Novalis (Friedrich von Hardenberg) in Freiberg,
wo Tulla im Wintersemester 1794/95 und im
Wintersemester 1795/96 Vorlesungen in Chemie und
Mineralogie belegte. Novalis studierte an der
Bergakademie
Freiberg ab dem Wintersemester 1797/98
Bergwesen, Chemie und Mathematik.
63 Jahre nach
Voltaires "Il faut cultiver notre jardin" am
Ende seines Schelmenromans "Candide" und 128
Jahre vor Stalins Großem Plan schreibt Tulla
1822 in seiner Denkschrift zur Rheinregulierung
gleich zu Beginn den bemerkenswerten Satz "Es
ist ein Gesetz der Natur, daß die Felsen
verwittern, die steilen Abhänge sich verflächen
und sanfter werden, die Land-Seen und Thalgründe
ausgefüllt, die horizontalen Ebenen in abhängige
Neigung gebracht und die Erdtheile und
vegetabilischen Theile von den Höhen den tiefern
Gegenden zugeführt und dadurch die Fruchtbarkeit
immer erneuert werde." (Tulla 1822, S. 2)
Landschaft als sanfter Garten, in harmonischer
Gestaltung, erscheint so als eigentliches Ziel
des Naturprozesses, das vom Wasserbauingenieur
zu unterstützen sei durch "Rectificirung",
Berichtigung - eine Position, die
theoretisch-philosophisch im Deutschen
Idealismus ausformuliert wurde mit der Aufhebung
von Natur in Geist, insbesondere bei Hegel und
Schelling. Tulla formuliert dieses Prinzip
einmal sehr prägnant als "der Natur nachhelfend,
durch Kunst" (Tulla 1822, S. 15).
Allerdings ist der Lobpreis einer gezähmten
Natur weit älter. Das Christentum entwickelte
insbesondere im benediktinischen und später im
zisterziensischen Mönchstum die Vorstellung, der
Mensch habe die Schöpfung zu entwickeln durch
die Urbarmachung von Wildnis, konkret auch durch
die Nutzung der Wasserkraft. So schildert die
"Descriptio positionis seu sitationis monasterii
Clarae-Vallensis" vom Beginn des 13.
Jahrhunderts die Nutzung der Aube unter
gleichsam bereitwilliger Mitwirkung des Flusses,
"er bietet stets seine Hilfe an und verweigert
sie nie. Zuletzt, um vollen Dank zu ernten und
nichts ungetan zu lassen, trägt er den Abfall
fort und lässt alles sauber zurück".
Das oft zitierte
Ende von Voltaires "Candide" gilt als prägnanter
Ausdruck für den Rückzug seiner Helden aus einer
Welt von Gewalt, Egoismus und Niedertracht in
die Überschaubarkeit und Harmonie eines tätigen
Daseins im privaten Bereich. Etwa zeitgleich mit
der Abfassung des "Candide" zog Voltaire selbst
sich zurück auf seine Landgüter bei Genf und
widmete sich dort dem Gartenbau und der
Landwirtschaft - schrieb allerdings auch
weiterhin literarische, philosophische und
historische Texte, empfing Besucher aus der
ganzen Welt, korrespondierte und mischte sich
unermüdlich politisch ein. Stalins "Plan zur
Umgestaltung der Natur/Plan preobrasowanija
prirody" will die gesamte Landschaft den
Prinzipien des Gartenbaus unterwerfen. Der
"Candide" als Dokument eines schier
rousseauistisch (bei aller Feindschaft, die
Voltaire dem leibhaftigen Rousseau und seinen
Theorien entgegenbrachte) anmutenden Rückzugs in
den eigenen Garten, Stalins Großer Plan als
Programm der Verwandlung eines ganzen Landes
nach dem Modell des Nutzgartens, mit
gleichmäßigen Parcellen, schützenden Wald-Hecken
und geregelter Bewässerung: Sie haben in Tullas
Denkschrift ihre Bindefuge.
Tulla bietet
zunächst bemerkenswerte Aussagen zum Verhältnis
Landschaft-Klima, die erhellen, wie intensiv das
19. Jahrhundert sich mit Klimafragen
beschäftigte. So schreibt
er: "Die Gebirge und die Ebenen, die Waldungen,
die Quellen, Bäche, Flüsse, Ströme und Seen, die
Sümpfe und die Steppen, modificiren das Clima,
und es kann dieses in ein und dem selben Land
wärmer und trockener, oder kälter und feuchter
werden, nach der Verschiedenheit der
Cultivirung." (Tulla 1822, S. 1) "Eine zu große
Verminderung der Waldungen im Ganzen, oder auch
nur in einzelnen Distrikten, wird und muß immer
nachtheilige Folgen für das Clima und die
Fruchtbarkeit haben." (Tulla 1822, S. 3f) Nicht
ganz 50 Jahre später warnt Victor Hehn dagegen:
"Man überschätze auch nicht den Einfluß der
Wälder auf das Klima" (Victor Hehn,
"Kulturpflanzen und Hausthiere", 1870, S. 6).
Mit Nachdruck
verweist Tulla auch auf die Funktion von
Überschwemmungen (die sein Begradigungswerk
künftig gerade verhindern sollte) für die
Fruchtbarkeit eines Landes (Tulla 1822, S.
2). Ausführlich beschreibt er
die Funktion der Wälder an Flüssen und Bächen
für den Schutz gegen Erosion und Hochwasser
(Tulla 1822, S. 3) So
lesen sich die ersten Seiten der Tullaschen
Denkschrift geradzu wie ein Plädoyer dafür, den
Fluß und seine Auwälder weitgehend zu erhalten
im Bestand. Eingriffe sollten nicht nur die
Schiffbarkeit und die Entwässerung
berücksichtigen, sondern, in heutigen Worten
gesprochen, die nachhaltige Entwicklung einer
Region fördern: "Eine planmäßige Forstkultur und
Entwässerungs- und Bewässerungs-Einrichtung
(...) sind die Grundlagen zur Erhaltung der
Fruchtbarkeit eines Landes." (Tulla 1822, S. 4)
Dies wird noch konkretisiert, insbesondere mit
einer klaren Absage an den Privatbesitz von
Gewässern und Ufern. Dann kommt Tulla zum
entscheidenden Satz seiner Denkschrift, der in
seinem ersten Teilsatz (zur umfassenden
Kanalisation der Fließgewässer) aus seinen
vorangegangenen Ausführungen keineswegs
abzuleiten ist: "In der Regel sollten in
kultivierten Ländern, die Bäche, Flüsse und
Ströme, - Kanäle - seyn, und die Leitung der
Gewässer in der Gewalt der Bewohner stehen" -
wobei er mit "Bewohner" die Öffentlichkeit
meint, den Privatbesitz von Gewässern lehnt er
ab (Tulla 1822, S. 7). Insbesondere die
Kanalisation und Umleitung von Bächen und
Flüssen zum Betrieb von Maschinen im
Privatbesitz hält Tulla für schädlich (Tulla
1822, S. 6f). Er empfiehlt statt dessen den
Einsatz von "Wind, Feuer und durch thierische
Kräfte" (Tulla 1822, S. 6). Das mutet wie eine
frühe Blaupause für Stalins Plan zur
Umgestaltung der Natur an und ist in seiner
Bedeutung nur angemessen zu erfassen vor dem
Hintergrund der Zeit. Napoleons Code civil hatte
1804 das Privateigentum an Gewässern geregelt -
das nach römischem Recht weitgehend
ausgeschlossen war. Frankreich hatte zuvor
durchaus in den Lauf des Rheines eingegriffen,
allerdings von ganz oben. Ludwig XIV ordnete
Trockenlegungen zur Landgewinnung im Elsaß an,
die zu massiven Grenzverschiebungen hinein ins
Badische führten.
In seinen
Ausführungen zur Rheinbegradigung selbst erklärt
Tulla dann, dass es Fehler im bisherigen
Flussbettmanagement seien, Fehler im Anlegen der
Dämme (mit der Folge einer Anhebung des
Flussbettes und eines Absinkens des
Hinterlandes) sowie im Anlegen von Siedlungen
und Äckern (nämlich zu nahe am Fluss), die ihn
nun zwängen, die Rheinkorrektur brachial
auszuführen: "so bleibt nur ein wirksames Mittel
übrig, die früheren Fehler zu verbessern und die
nach und nach entstandenen Übel zu beseitigen,
nemlich die möglichst gerade Leitung des
Flusses, die Abschneidung seiner Nebenarme, die
Demolirung der schädlichen Dämme u.s.w. also die
Rectificirung des Flusses." (Tulla 1822, S. 40).
Hier spricht nicht nur der Ingenieur, sondern
auch der Aufklärer Tulla. Und mit Nachdruck
kritisiert er die Missachtung natürlicher
Prozesse bei Flusskorrekturen der Vergangenheit:
"Die Nichtbeachtung dieser der Natur selbst
abgewonnenen Maaßregeln, hat immer früher oder
später traurige Folgen für die Uferbewohner"
(Tulla 1822, S. 42). Tulla war keineswegs der
bornierte Technokrat, als der er heute bisweilen
dargestellt wird. Und nicht nur die
technikbegeisterten Anhänger Tullas, auch seine
naturliebenden Kritiker könnten von ihm lernen,
was ein kooperativer Umgang mit der natürlichen
Umwelt zu beachten hat.
Tulla starb bereits 1828, an den Folgen einer
Malariainfektion, in Paris.
Lektüreempfehlung: Johann Gottfried Tulla, Der
Rhein von Basel bis Mannheim mit Begründung der
Nothwendigkeit, diesen Strom zu regulieren.
Denkschrift, Karlsruhe 1822
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Alexander von Humboldt, der erste
Naturschützer?
Alexander von
Humboldt (1769-1859) wurde zwar ein halbes Jahr
vor Tulla geboren, doch seine Hauptwerke
entstanden erst nach dem Tod Tullas, er gehört
bereits einer anderen Generation an, steht für
ein erheblich weiter entwickeltes
Naturverständnis und eine Naturbeziehung, die
unserem ökologischen Zeitgeist näher zu stehen
scheint als die Haltung Tullas. Sein 250.
Geburtstag 2019 brachte ihm daher von der
ZEIT-Redaktion auch das Prädikat "erster
Naturschützer" ein, die WELT titelte "Der erste
Öko". Und schon
2015 vertrat die Journalistin Andrea Wulf
in ihrer vielbeachteten
Humboldt-Biographie "Alexander von
Humboldt und die Erfindung der Natur"
(zuerst auf Englisch erschienen) die
Auffassung, dass Humboldt die
amerikanische Naturschutzbewegung
entscheidend inspiriert habe.
In der
Vorrede zu seinem "Kosmos" bekennt Humboldt
1844 gleich zu Beginn: "Was mir den
Hauptantrieb gewährte, war das Bestreben,
die Erscheinungen der körperlichen Dinge in
ihrem allgemeinen Zusammenhang, die Natur
als ein durch innere Kräfte bewegtes und
belebtes Ganzes aufzufassen." Es ist das
Programm, dass wir noch vom zwanzig Jahre
älteren Goethe kennen, nun aber deutlich
untergeordnet dem "Hang nach der Kenntnis
des einzelnen". Hier wird keine Urpflanze
mehr gesucht, sondern die Fülle der
Erscheinungen akribisch erfasst, um in der
Natur selbst zu finden, was Deutscher
Idealismus und Romantik im Geist, in der
Moral, in der Phantasie, in der
Kunstschöpfung gesucht und gefunden haben:
"Die Natur aber ist das Reich der Freiheit"
("Einleitende Betrachtungen").
Im V.
Kapitel, "Naturbeschreibung. Naturgefühl
nach Verschiedenheit der Zeiten und der
Volksstämme", schreibt der Naturforscher von
der "Verherrlichung der Gottheit aus ihren
Werken" (wir kennen das schon von Spinoza,
Brockes und vielen anderen) im Christentum,
was sich in wertschätzenden
Naturbeschreibungen widerspiegele. Wir
dürfen hier auch eine Selbstbeschreibung
Alexander von Humboldts herauslesen, ein
Bekenntnis zur eigenen spinozistisch
anmutenden Naturverherrlichung.
Wenn Michael Pilz am 29. Juli 2019 in einem
Beitrag für die "Welt" den Autor des
"Kosmos" launig als den "ersten Öko"
charakterisiert, nennt er als Begründung den
künstlerischen Zugriff Humboldts auf die
Natur, die Zeichnungen, sowie sein
ganzheitliches Naturverständnis. "Die Demut,
die sich einstellt, wenn der künstlerische
Wert der Schöpfung auf seinem Papier
erscheint, macht Humboldt zu einem der
ersten Ökologen und Naturschützer." Wie es
scheint, kann Pilz sich dabei auf Humboldt
beziehen, der im Kapitel VI über
"Landschaftsmalerei in ihrem Einfluß auf die
Belebung des Naturstudiums" ganz am Ende
schreibt: "Der Begriff eines Naturganzen,
das Gefühl der Einheit und des harmonischen
Einklanges im Kosmos werden um so lebendiger
unter den Menschen, als sich die Mittel
vervielfältigen, die Gesamtheit der
Naturerscheinungen zu anschaulichen Bildern
zu gestalten." Eine Auffassung, die in der
Gegenwart mit ihren umfänglichen "Mitteln"
zur Vervielfältigung bedauerlich widerlegt
wird.
Humboldt hat in Venezuela die Folgen von
Abholzung und agrarischer Monokultur
analysiert und vor langfristigen negativen
Konsequenzen gewarnt. Er ist allerdings nie
in Erscheinung getreten, wo es im 19.
Jahrhundert in seiner Heimat Naturzerstörung
und Umweltvergiftung gab - und die gab es
mit der aufkommenden Verstädterung und
Industrialisierung en masse. Belegt ist,
dass er sich immer wieder gegen
Sklavenhalterei ausgesprochen habe, was
zumindest das ihm derzeit gleichfalls gerne
angeheftete Prädikat "Menschenrechtler"
begründet. Sicherlich hat Humboldt wichtige
Vorarbeiten für den Naturschutz geleistet,
indem er zur Abhängigkeit der Vegetation von
ihrer Umwelt umfangreiches Material sicherte
und analysierte, Lebensraumtypen wie
"Steppe", "Heide", "Wald", "Wüste" und
andere prägnant charakterisierte. Lange vor
Haeckel habe Humboldt, so der Geograph Ernst
Plewe in einem Vortrag 1969, die Ökologie
als Wissenschaft begründet, "die Erde
überhaupt neu sehen gelehrt, denn das
grundsätzliche ökologische Problem ist bei
allen Variationen im einzelnen doch überall
dasselbe" (Plewe 1970, S. 19).
Das Prädikat "Naturschützer" sollte
allerdings mit Fragezeichen versehen werden.
Der Zoologe Matthias Glaubrecht kritisiert
in einem Beitrag für den Tagesspiegel vom
28.12.2016 entschieden die von Andrea Wulf
"seltsam unzeitgemäß" konzipierte Biografie,
in der an Humboldt "alles bio, öko, global
und nachhaltig sowieso" sei.
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Adalbert Stifter und die Ökologie des
Gartenbaus
Die "Vorrede" zu
den "Bunten Steinen" Adalbert Stifters von 1852
beginnt mit dem Verweis auf eine Kritik
Friedrich Hebbels, Stifters Figuren und Themen
seien "unbedeutend". Stifter hält dem seine
Gedanken zum "sanften Gesetz" entgegen, welches
seine Dichtung ebenso bestimme wie es Natur als
äußere Natur und als innere Natur des Menschen
bestimme. Maßstab dieses Gesetzes sei die
Erhaltung des Ganzen gegenüber den Anmaßungen
des Individuums - und die Behauptung des Kleinen
und scheinbar Unbedeutenden gegenüber den lauten
Ansprüchen des Gewaltigen. Beispiele hierfür
nimmt Stifter zunächst aus dem Naturbereich. Er
setzt das "Rieseln des Wassers" dem "prächtig
einherziehenden Gewitter" entgegen als das
beständig Wirksame gegenüber dem vorübergehend
Zerstörerischen.
Seine
Naturbeispiele bereiten uns vor auf die
Ausführungen zur menschlichen Gesellschaft, zur
"sittlichen Geschichte der Menschheit":
"Wenn aber jemand jedes Ding unbedingt an sich
reißt, was sein Wesen braucht, wenn er die
Bedingungen des Daseins eines anderen zerstört,
so ergrimmt etwas Höheres in uns, wir helfen dem
Schwachen und Unterdrückten, wir stellen den
Stand wieder her, daß er ein Mensch neben dem
andern bestehe, und seine menschliche Bahn gehen
könne, und wenn wir das getan haben, so fühlen
wir uns befriediget, wir fühlen uns noch viel
höher und inniger als wir uns als Einzelne
fühlen, wir fühlen uns als ganze Menschheit."
(Bunte Steine, München: Winkler 1951, S. 10)
Diesem "sanften
Gesetz" Stifters hat als einer der ersten Thomas
Mann misstraut: "Hinter der stillen, innigen
Genauigkeit gerade seiner Naturbetrachtung ist
eine Neigung zum Exzessiven,
Elementar-Katastrophalen, Pathologischen
wirksam". Eines seiner stillsten und in der
Naturbetrachtung genauesten Werke ist gewiss der
"Nachsommer" (erstmals erschienen 1857). Hier
erscheint als zentrales Bild das Rosenhaus des
Freiherrn von Risach. In der Forschung gilt
verbreitet das Urteil, im Rosenhaus finde sich
das Ideal einer Synthese von Natur und Kultur
symbolisch gestaltet. Doch unter dem Titel
"Entfernte Natur: Rosenpracht und Kaktusblüte"
verweist Jochen Berendes in seinen "Studien zum
Werk Adalbert Stifters" von 2009 auf die
Brüchigkeit dieser Symbolik und kommt zum
Schluss, es verliere "die vermeintlich zentrale
Rosensymbolik mit der beginnenden
Liebesgeschichte ihre Koinzidenz mit den
Handlungen des Protagonisten". Wie Berendes
herausarbeitet, ist die Erfüllung der
Liebesgeschichte begleitet von verblühenden
Rosen; zur Hochzeit wird, mit gärtnerischer
Manipulation und vom Protagonisten Heinrich
distanziert aufgenommen, ein Felsenkaktus
(Cereus peruvianus) zum Blühen gebracht. Die
Rosenblüte beginnt erst nach der Hochzeit und
wird - wie auch die Hochzeit selbst - von
Heinrich als Störung charakterisiert. Die
Rosenwand im "Nachsommer" birgt offenkundig die
Nähe zum "Katastrophalen", die Thomas Mann bei
Stifter diagnostiziert. Das wird deutlich in den
Ausführungen Heinrichs zur Bedeutung der
Rosenblüte für die Familienzusammenführung
anlässlich der Hochzeit: "Mein Vater sollte
sehen, welche Gewalt die Menge und die
Mannigfaltigkeit auszuüben imstande ist, wenn
diese Menge und Mannigfaltigkeit auch nur lauter
Rosen sind."
Dieser "Gewalt"
der Rosen und den Störungen durch Hochzeit und
Rosenblüte gegenüber gestellt wird in einer der
bemerkenswertesten Passagen des Werkes - ganz
dem "sanften Gesetz" verpflichtet - die erste
Begegnung der beiden "Väter" des Brautpaares vor
der Hochzeit, die zunächst den Garten Risachs
gemeinsam erkunden, dabei die Rosenwand nur kurz
streifen, in einem längeren Disput jedoch etwas
erörtern, das wir heute als biologischen
Pflanzenschutz dem ökologischen Gartenbau
zuordnen würden. Es geht um die Dezimierung von
Schadraupen durch Vögel, wobei Risach keine
völlige Vernichtung der Raupen als
erstrebenswert ansieht, um den Vögeln ihre
Nahrungsquelle zu erhalten und auch um sich an
Faltern zu erfreuen. Ein Schaden am Obst durch
die Vögel andererseits wird durch ihren Nutzen
aufgewogen gesehen. Stifter schreibt dies wenige
Jahre vor dem Aufkommen der ersten chemischen
Pflanzenschutzmittel. Und er widmet dem Thema
ein ganzes Kapitel seines Romans, das fünfte von
siebzehn, überschrieben mit "Der Abschied".
"Der Abschied"
thematisiert die Vorzüge des Landlebens
gegenüber der städtischen Existenzform und
entwirft eine grandiose Skizze des Gärtnerns,
die an Motive Rousseaus wie Voltaires
gleichermaßen erinnert. Und in diesem Kapitel
begegnet Heinrich gleich zu Beginn erstmals dem
Kakteenhaus Risachs, der Gärtner führt ihn
dorthin, nicht Risach selbst. Risach erläutert
Heinrich dann im Fortgang des Kapitels die
Besonderheit seines gärtnerischen Ansatzes, der
auf einer Zusammenarbeit mit der Natur basiert.
Den dominierenden herrischen Umgang mit der
Natur führt Risach auf "Schwäche und Eitelkeit
des Menschen" zurück. Auf die Nachfrage
Heinrichs, warum Risach denn die Rosenwand
seines Hauses an einer Stelle aufgeführt habe,
die von den natürlichen Gegebenheiten her ganz
ungeeignet sei, antwortet Risach mit dem Verweis
auf eine zu bewahrende persönliche Erinnerung.
Und was Risach dann beschreibt, wie er die
natürlichen Gegebenheiten verändert habe, etwa
durch Austausch des Erdreichs oder den gezielten
Eingriff in Luftströmungen, hat ganz
erstaunliche Parallelen zum Gartenbau eines
zeitgenössischen Österreichers, der bekannt
wurde unter anderem durch die Pflanzung von
Zitrusfrüchten in den Alpen, Sepp Holzer vom
Krameterhof, ein maßgeblicher Vertreter der
"Permakultur", eines Zweiges des ökologischen
Landbaus.
Nach Werner
Michler ist Natur "ohne Zweifel einer der
Schlüsselbegriffe in Stifters Werk". In der
Forschung unterscheide man vier verschiedene
Naturkonzepte bei Adalbert Stifter, ein
"mythisches", ein "romantisches", ein
"christlich-metaphysisches" und ein
"säkular-empiristisches". Avant la lettre dürfen
wir durchaus auch erste Züge einer im modernen
Sinne "ökologischen" Naturauffassung
konstatieren. Im fernen Jena prägte Ernst
Haeckel, wie Stifter vielseitig begabt und
aktiv, bald nach der Veröffentlichung des
"Nachsommers" den Begriff "Ökologie" für die
"Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus
zur umgebenden Außenwelt".
Lektüreempfehlung: Werner Michler,
Naturkonzepte. In: Christian Begemann/Davide
Giuriato (Hrsg.), Stifter Handbuch. Leben -
Werk - Wirkung, Stuttgart: Metzler, 2017,
S.246-249
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Richard Wagners Alberich und die
Sexualisierung der Natur
Die christliche
Rechtfertigung des Bergbaus kippt im 19.
Jahrhundert, zügig nach ihrer Übersteigerung bei
Novalis, in eine krude Mischung aus
Neuheidentum, Kapitalismuskritik und
Antisemitismus, die in Wagners Opern ihren
populärsten und bildstärksten Ausdruck fand. Die
politisch orientierte Musikkritik sieht in
Alberich, dem bergbauenden Gnom, der das
Rheingold stiehlt, bei Wagner primär ein
antisemitisches Klischee wirksam. Erstmals hat
dies Alfred Einstein 1927 formuliert.
Ausgearbeitet und einem weiteren Publikum
bekannt wurde die Analyse durch Theodor W.
Adorno, in seiner 1937/38 verfassten Schrift
"Versuch über Wagner" (Kapitel I,
"Sozialcharakter"). Und in der Tat gibt es
erhebliche Parallelen zwischen Wagners
Charakterisierung der Nibelungen und seinen
Ausführungen zum "Judenthum" in der Schrift "Das
Judenthum in der Musik".
Kulturhistorisch betrachtet schlägt hier die
extreme religiöse Überhöhung des Bergbaus um,
wie sie die Romantik betrieben hatte. Richard
Wagner ist Novalis vielfältig und ambivalent
verbunden. Im "Tannhäuser" greift er gleichfalls
den Sängerkrieg auf der Wartburg auf, und zwar
konkret die Legenden um Heinrich von
Ofterdingen. Allerdings verweist die Forschung
für den "Tannhäuser" lediglich auf Bezüge zu
"Des Knaben Wunderhorn" (Clemens Brentano/Achim
von Arnim), "Der getreue Eckart und der
Tannenhäuser" (Ludwig Tieck) und "Der Kampf der
Sänger" (E.T.A. Hoffmann), nicht auf den
"Heinrich von Ofterdingen" Novalis'. Dass Wagner
indes durchaus Novalis gelesen hat, zeigen die
Bezüge in "Tristan und Isolde" zu den "Hymnen an
die Nacht". Wie aber kommt es, dass der Bergbau
bei ihm wieder von der christlichen
Rechtfertigung abgelöst wird?
Ansätze hierzu finden wir bereits in der
Romantik, deren Verhältnis zum Christentum weit
offen ist für dessen heidnischen Unterstrom. In
"Die Bergwerke zu Falun" von E.T.A. Hoffmann
finden wir den Bergbau mit mythischen Motiven
verbunden, mit Geistererscheinungen, Visionen
und einer deutlich sexuell belegten
"Bergkönigin". Wagner selbst setzt mit
"Lohengrin" 1850 den Schlusspunkt seiner
affirmierenden Bezüge auf den christlichen
Kanon. Bereits 1848, im Umkreis der von Wagner
unterstützten Revolution in Deutschland,
beginnen die Arbeiten an "Siegfrieds Tod". Den
zunächst schwachen Besuch der Bayreuther Spiele
begründete Wagner Nietzsche gegenüber einem
Zeugnis der Schwester Nietzsches zufolge später
so: "Die Deutschen wollen jetzt nichts von
heidnischen Göttern und Helden hören, die wollen
was Christliches sehen." (Kurt Hildebrandt,
Wagner und Nietzsche, 1924, S. 344).
Im Fortgang der Arbeit am Zyklus "Der Ring des
Nibelungen" realisiert Wagner, eng verbunden mit
nationalistischem Ideengut, implizite auch eine
Neubewertung überlieferter Naturbilder, die über
die Wagner eng verbundene Lebensreformbewegung
um 1900 wirksam blieb bis ins 20. Jahrhundert
hinein. Das "Heidnische" im Ring ist vorrangig
markiert durch einen Reigen weiblicher Figuren,
von den Rheintöchtern über Freia bis zu
Brünnhilde. Die Rheintöchter partizipieren an
der zeitgenössischen Sexualisierung der
Verbindung von Wasser und Weiblichkeit, sind
Verwandte von John Everett Millais' Ophelia und
Heinrich Heines Loreley. Freia und Brünnhilde
evozieren chtonische Muttergottheiten. Sie alle
hängen am Ring des Alberich, entfalten sich vor
seiner düsteren Thematisierung von Erde, Höhle,
Bergbau.
Der Biograph Ulrich Drüner weist auch darauf
hin, wie sehr Wagner seine Inspirationen aus
alltäglichen Erfahrungen bezog, die sich ihm
bedeutungsvoll aufluden (Drüner 2016, S. 148f).
So hatte Wagner aus der Landschaft bei Eisenach
die Verbindung von Wartburg (Sängerkrieg) und
Hörselberg (Legenden zufolge der Zugang zur
Hölle, "Venusberg") stets vor Augen. Der Bruder
von Wagners verehrtem Stiefvater Ludwig Geyer,
Karl Geyer, war Goldschmied in Eisleben, einer
durch den Kupferbergbau groß gewordenen Stadt.
Nach dem Tod seines Stiefvaters lebte Wagner
hier etwa ein Jahr, 1821/1822. 1873 machte er in
Eisleben mit Cosima Wagner Station auf einer
Reise durch die Orte seiner Kindheit. In Wagners
"Meistersinger" steht die Tochter eines
Goldschmieds, Eva, im Mittelpunkt des
Geschehens.
Lektüreempfehlung:
Ulrich Drüner, Richard Wagner. Die Inszenierung
eines Lebens, Blessing 2016
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Bachofen: Mutterrecht
Johann Jakob
Bachofens Publikation von 1861, "Mutterrecht",
gilt als Entdeckung des Matriarchats, als erste
fundierte Erschütterung der Gewissheit des
patriarchal aufgestellten Bürgertums des 19.
Jahrhunderts, dass Männer eben schon immer "das
Sagen hatten" - wobei das Bürgertum Bachofens
Werk zunächst weitgehend ignorierte. Wirkmächtig
gelesen wurde er erst zwanzig Jahre später von
Friedrich Engels, der sich in "Der Ursprung der
Familie, des Privateigentums und des Staates"
emphatisch auf Bachofen bezog und damit eine
breitere Bachofen-Rezeption einleitete. Dass
Bachofen sich dabei nicht auf archäologische,
anthropologische, soziologische und
ethnologische Untersuchungen stützte (nicht
stützen konnte, gab es diese doch nur
rudimentär), sondern ausschließlich auf die
kulturelle Überlieferung in historischen
Berichten, Mythen, Legenden und religiösen
Schriften, führte in den 1920er Jahren zu einer
zweiten Entdeckung Bachofens, nun im rechten
politischen Spektrum, eingeleitet durch Ludwig
Klages mit seiner Schrift "Vom kosmischen Eros".
Bachofens einseitige Datengrundlage schränkt aus
heutiger Sicht die wissenschaftliche
Brauchbarkeit seiner Herleitungen erheblich ein.
Dies ändert jedoch nichts an der epochalen
Bedeutung seiner Schrift.
In seiner "Vorrede und Einleitung" schreibt
Bachofen von "Mutter Erde" und ihrer "wilden
Vegetation", die "am reichsten und üppigsten in
dem Sumpfleben den Blicken des Menschen sich
darstellt". Die Verbindung von
Weiblichkeit/Mütterlichkeit und "Sumpfleben"
geht zurück auf die Dämonisierung des Weiblichen
und Sexuellen im Christentum seit Augustinus und
sollte im Faschismus besonders diffamierende
Ausprägungen erfahren, wie Klaus Theweleit in
seiner opulenten Untersuchung "männerphantasien"
1978 herausgearbeitet hat. Bachofen sieht diese
Vorstellung in seinen Quellen repräsentiert und
liest sie als Signum des "Hetärismus", einer
frühen und spezifischen Ausprägung des
Matriarchats. Es ist bemerkenswert, dass
Bachofen die seit der Antike tradierte
Verbindung von Frauen- und Naturvorstellungen
noch einmal in extenso referiert und sie
zugleich in Frage stellt mit seinem Nachweis
einer historisch manifestierten Verbindung von
Frauen und Kontrollmacht.
Hans G. Kippenberg wählt für seine Ausgabe
Bachofenscher Schriften zu "Mutterrecht und
Urreligion" als Motto eine Passage aus Livius,
Ab urbe condita I 56. Dort erfahren Tarquinus
und Brutus vom delphischen Orakel, wer von ihnen
die Macht in Rom erhalten solle. "Ex infimo
specu vocem redditam ferunt: imperium summum
Romae habebit qui vestrum primus, O iuvenes,
osculum matri tulerit." Brutus küsst daraufhin
heimlich die Erde, da er davon ausgeht, das
Orakel meine diese Mutter, "scilicet quod ea
communis mater omnium mortalium esset". Das
antike, "heidnische", Bild von "Mutter Erde"
wurde dann vom Christentum massiv
zurückgedrängt, lebte allerdings unterschwellig
weiter, wie etwa das "sora nostra matre terra"
im Sonnengesang des Franz von Assisi zeigt oder
die Schrift "Iudicium Iovis" des böhmischen
Humanisten Paulus Niavis (i.e. Paul
Schneevogel), verfasst um 1492/95 in Zittau.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts taucht "Mutter
Erde" im Kontext von Frühindustrialisierung und
Aufklärung wieder verwandelt auf, nun häufig als
mütterlich gedachte Natur - so bei Rousseau und
Hölderlin.
Bachofens Arbeit kommt das Verdienst zu, in der
Umbruchsituation des 19. Jahrhunderts mit seinen
bürgerlich-patriarchalen Zugriffen auf die
natürliche Umwelt modellhaft vorgestellt zu
haben, wie das "tellurische" Zeitalter eines
"Sumpflebens" in die "demetrische" Gynaikokratie
einer Ackerbaugesellschaft einmündet, die nicht
Ausbeutung, sondern Erhalt der Fruchtbarkeit im
nutzenden Zugriff zum Prinzip hatte. Vielleicht
sollte heute wieder gelesen werden, wie
Bellerophon den Poseidon (das übertretende Meer)
auf das Land Lykien hetzt, dann aber vor den
aufgeschürzten Lykierinnen zurückweicht (Kapitel
"Lykien").
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Stalins Terraforming-Projekte
Um eine
differenzierte Darstellung der Umweltpolitik in
der Sowjetunion haben sich die US-amerikanischen
Forscher Douglas Weiner und Stephen Brain
äußerst verdient gemacht. Weiner widmete sich
dabei vor allem der Arbeit der
Naturschutzverbände und den Widerständen, die
ihnen von Verwaltungsseite begegneten, Brain
untersuchte die staatliche Umweltpolitik am
prägnanten Beispiel der Forstpolitik.
Forstpolitik und
Umweltpolitik waren bereits im zaristischen
Russland weitgehend identisch, insofern der
zaristische Patriotismus den Wald zur Essenz der
russischen Beheimatung erklärte - was nicht
verhinderte, dass zeitgleich der partielle
Ausverkauf des Waldes stattfand: Für die
Entwicklung des Landes und die Privatinteressen
der Regierenden seit Peter dem Großen (der
allerdings auch Aufforstungen und Waldschutz
förderte), für die Schatullen des verarmenden
Adels im 19. Jahrhundert und zur
Kapitalakkumulation des erstarkenden Bürgertums
um die Jahrtausendwende.
Vier praktische
Funktionen wurden dem russischen Wald
zugesprochen, und zwar bereits zum Ende des 19.
Jahrhunderts, verstärkt nach den Dürren mit
folgenden Hungersnöten um 1900 und den
katastrophalen Überschwemmungen in Moskau Anfang
des 20. Jahrhunderts: Regulierung des
Wasserhaushaltes für den Boden, Erosionsschutz,
Hochwasserschutz, Klimaverbesserung. Dazu kam
die symbolische Funktion der Identitätsstiftung
für die russische Gesellschaft gegenüber den
asiatischen Nachbarn und dem industriell
vorangetriebenen europäischen Modernismus.
Mythen und Märchen, Volkslieder und Bräuche
haben diese Funktion gestützt. "In the first
decades of the twentieth century, forest
specialists devised theories inspired by the
idea that the forest embodied Old Russia, and in
the Soviet period, these concepts did not
vanish, but instead survived, evolved, and in
some ways thrived." (Brain 2011, S. 8).
Insbesondere die Arbeit von Georgij
Fjodorowitsch Morosow (1866-1920) übersetzte die
patriotische Funktion, aber auch die praktischen
Funktionen in ein Forstkonzept, dessen
ausdrückliches Ziel der Erhalt bzw. die
Rekonstruktion jeweils standorttypischer Wälder
war - mit einer entschiedenen Abkehr vom
Kahlschlag mit nachfolgender
Nadelforstpflanzung. Seine Auffassungen
verbreitete Morosow als Professor für
Forstwirtschaft in Petersburg ab 1901 und als
Herausgeber des "Lesnoj Schurnal" 1904-1919.
Nach seinen Überzeugungen, 1917 vorgetragen auf
der Allrussischen Konferenz der Förster und
Forsttechniker in Petrograd, konnte auch nur der
Staat als Waldbesitzer Garant einer
entsprechenden Forstwirtschaft im allgemeinen
gesellschaftlichen Interesse sein.
"The Russian cultural ecosystem continued to
support ideas about the central role that
forests play in healthy landscapes, regardless
of ephemeral political shifts and even the
upheaval of Stalin's Great Break." (Brain 2011,
S. 169) Morosows Ansätze wurden unter Stalin
wesentlicher Bestandteil der Forstpolitik,
insbesondere für die Wälder westlich des Ural.
Brain kommt gar zu folgendem Schluss: "The
Soviet appropriation of Morozov's theories led
to the creation of a unique, distinctly Soviet
form of environmentalism, herein called
Stalinist environmentalism." (Brain 2011, S.
169) Dass auch dieser "environmentalism"
verbunden war mit massenhaften Deportationen,
todbringenden Arbeits- und Straflagern steht
außer Frage. Die
Sowjetunion hatte vom Zarismus ein riesiges
Reich übernommen, dessen Landwirtschaft unter
anderem - je nach Region in unterschiedlichem
Maße - an Dürren, Versumpfungen und Bodenerosion
litt, die großteils durch die massiven
Abholzungen verursacht oder zumindest verstärkt
wurden. Insbesondere die Dürren sind ein noch
immer bedrohliches Problem der russischen
Landwirtschaft: Im Gebiet Wolgograd
vertrockneten 2007 insgesamt 700.000 Hektar
Sommergetreide, 2010 reduzierte die extreme
Sommerhitze die Landwirtschaftsproduktion um
10%. Befürchtet wurde im Zarismus wie in der
Sowjetzeit auch eine Ausbreitung der Steppe von
Südosten her. Die forcierte nachholende
sowjetische Industrialisierung und Verstädterung
erforderte zudem eine erhebliche
Effizienzsteigerung in der
Lebensmittelversorgung. Dazu kam der auch zur
Herrschaftslegitimation den südlichen Regionen
gegenüber formulierte Anspruch, Wüsten in
blühende Landschaften zu verwandeln" (wusste
Helmut Kohl, wen er zitiert?). Eine wesentliche
Rolle bei der Bewältigung dieser Aufgaben sollte
Aufforstung spielen.
Stalins "Plan zur Umgestaltung der Natur" ("Plan
preobrasowanija prirody" - abgeleitet von
"obrasowanie", "Bildung", "Ausbildung",
"Entstehung"), bekannt auch als "Großer Plan",
wird heute vorwiegend verbunden mit der
Umleitung der sibirischen Flüsse Ob und
Jenissej, die ins nördliche Eismeer münden, nach
Süden - mit Anlegung eines gigantischen Stausees
von der siebenfachen Fläche der Schweiz und
Überwindung der Wasserscheide. Dazu kam ein
Projekt westlich des Ural-Gebirges, das von der
Propaganda stärker in den Vordergrund gerückt
wurde und dessen Realisierung wahrscheinlicher
schien, zur Bewässerung und Aufforstung der
Südregionen des russischen Kernlandes. Dieses
Projekt - gerne gehandelt als typisches Beispiel
sowjetischer Hybris - wurde in wesentlichen
Elementen bereits 1871, lange vor Stalin,
erstmals skizziert, ausdrücklich zur
"Klimaverbesserung in den anliegenden Ländern"
(Jakiw Grigorowitsch Demtschenko, O nawodenii
Aralo-Kaspijskoj nismennosti dlja ulutschenija
klimata prileschaschtschich stran, Kiew 1871),
im Zarismus immer wieder einmal thematisiert und
unter Stalin ab 1940 von Mitrofan Michailowitsch
Dawydow als Plan entwickelt, 1950 vom
Ministerrat der UdSSR verabschiedet und 1986
unter Gorbatschow offiziell aufgegeben.
Anders als Propagandaplakate der Zeit nahelegen,
die vor allem landwirtschaftliche Flächen in
gleichmäßigen Rechtecken zeigen, stand hinter
dem Plan auch ein gigantisches
Aufforstungsprogramm. Sowohl die Flüsse als auch
die landwirtschaftlichen Flächen sollten von
Waldstreifen flankiert sein, gegen Erosion,
Grundwasserabsenkung und Versumpfung. Insgesamt
sollten 6 Millionen Hektar Wald neu angelegt
werden. Brain nennt den Großen Plan daher "the
world's first explicit attempt to reverse
human-induced climate change" (Brain 2011, S.
140) - nicht ganz klar ist allerdings, wieviel
bestehender Wald Stalins Projekt zum Opfer
gefallen wäre. Zudem hätte die Umsetzung des
Planes in weit massiverer Weise unkalkulierbar
in Klimaregulationen eingegriffen als dies die
Waldrodungen der Vergangenheit taten. Stalins
Aufforstungs- und Waldschutzprogramme wurden
allesamt nach seinem Tod weitgehend aufgegeben.
In der Forstwirtschaft setzten sich schon vor
Stalins Tod die Ideen des Agrarökonomen und
Lamarckisten Trofim Denisowitsch Lysenko durch,
der Morosows Ansätze als "romantisch",
"bürgerlich" und "anti-sowjetisch" deklarierte -
und der von Stalin im Landwirtschaftsbereich
schon ab 1935 massiv unterstützt worden war,
nicht zuletzt weil seine Theorien Planerfüllung
versprachen und der sowjetischen Programmatik
zur Gestaltung von Mensch und Umwelt ein
wissenschaftliches Fundament zu geben schienen.
Erinnert sei abschließend auch daran, dass Karl
der Große 792/93 den Plan hegte, Rhein und Donau
zu einem Flußsystem zu verbinden, das vom
Schwarzen Meer bis zur Nordsee reicht.
Lektüreempfehlung:
Stephen Brain, Song of the Forest. Russian
Forestry and Stalinist Environmentalism 1905-1953,
University of Pitsburgh Press 2011
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Land-Art
Gestaltung von
Landschaft betreibt die Menschheit von Anbeginn,
prägnant wird sie mit den ersten in Felsen
gehauenen Siedlungen oder Rodungen für
Ackerflächen, ihre späten Stufen kennen wir als
"Geoengineering" - ein Begriff, der
erstaunlicherweise fast nur noch synonym mit
"Climate Engineering" verwendet wird. Dabei ging
es um den pragmatischen Nutzen, nicht um Kunst.
Mit der Errichtung von Kultstätten, Grabhügeln
und ähnlichem wird jedoch schon früh die Grenze
zur Kunst tangiert.
Was heute als "Land-Art" bezeichnet wird,
entstand in den 60er Jahren - und sicherlich
nicht nur zufällig zeitgleich mit der
Hippie-Bewegung und ihren Landkommunen, mit dem
Aufkommen der Ökologiebewegung und der
Sensibilität für die Interaktion Mensch-Natur.
Der britische Konzeptkünstler Keith Arnatt gräbt
sich 1969 in die Erde ein und setzt 1970 in
Aachen-Monschau virtuell einen Kackhaufen zur
Freiluftausstellung "Umwelt-Akzente" ab. Wie
weit seine Aktionen legitim als Land-Art
bezeichnet werden können, ist so strittig wie
der exakte Begriff von Land-Art. Der einzige
erkennbare gemeinsame Nenner ist, dass der
Produktionsprozess draußen in der - mehr oder
weniger - freien Landschaft/Natur stattfindet
und Landschaft/Natur einbezieht und dass die
substantielle Basis des Produktes draußen
verbleibt (in der Regel werden jedoch
Dokumentationen erstellt, die dem Kunstmarkt
zugänglich sind).
Arnatt steht für die Verbindung von Land-Art mit
Konzeptkunst und damit für die Thematisierung
der künstlerischen Subjektivität. Am anderen Pol
finden wir den Briten Andy Goldsworthy, der die
Naturmaterialien und Naturprozesse selbst (auch
Sukzession und Verfall) in den Mittelpunkt
seines künstlerischen Interesses stellt. Für ihn
sind Landschaft und Naturmaterialien per se
Kunstwerke, die er ins Bewußtsein heben möchte.
Dabei ist Hintergrundthema immer auch Zeit als
entscheidende Dimension aller
Natur-Kunst-Prozesse. Einem breiteren Publikum
bekannt ist seine Arbeit durch den Film "'Rivers
and Tides" von Thomas Riedelsheimer, 2001.
Riedesheimer begleitete die Arbeit Goldworthys
in vier Ländern über alle vier Jahreszeiten.
Einen dritten Ansatz vertritt Christo (Christo
Wladimirow Jawaschew, geboren 1935 in
Bulgarien), der zusammen mit seiner Frau
Jeanne-Claude (1935-2009) nicht nur Gebäude
einpackte, sondern auch Teile von Landschaften
und Gewässern besonders markierte durch
Verhüllung. Bei Christo und Jeanne-Claude wird
unsere Art und Weise, Landschaft zu sehen und
für das Sehen zu gestalten, wird Natur als Teil
der Kulturgeschichte thematisch.
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Gaia-Hypothese
In den 60er und
70er Jahren entwickelten die Mikrobiologin Lynn
Margulis und der Biophysiker James Ephraim
Lovelock die Gaia-Hypothese, wonach unser Planet
sinnvoll als ein komplexes einheitliches sich
selbst regulierendes System verstanden werden
könne. Eine Annahme, die inzwischen weitgehend
Grundlage der Klimaforschung ist. Den Anfang
machte Lovelock, der Ende der 1960er Jahre aus
seinen Arbeiten mit Dian R. Hitchcock (1967) und
C. E. Giffen (1969) zur "atmospheric
homeostasis" (dynamische Konstanz der
Gaszusammensetzung in der Erdatmosphäre mit ca.
21% Sauerstoff) die Auffassung ableitete, die
Erde könne als lebender Organismus aufgefasst
werden. Den Begriff "Gaia" verwendete er dafür
erstmals in einem Beitrag für "Atmospheric
Environment" (6) 1972 mit dem Titel "Gaia as
Seen Through the Atmosphere". Im Februar 1975
veröffentlichte Lovelock gemeinsam mit Sidney
Epton in "New Scientist" den Beitrag "The quest
for Gaia", der die Frage stellte, ob die
sichtbaren, erfahrbaren Elemente unseres
Planeten "part of a giant system which could be
seen as a single organism" seien. Rückblickend
schrieb Lovelock 1989 in "Reviews of Geophysics"
unter dem Titel "Geophysiology, the science of
Gaia": "To me it was obvious that the Earth was
alive in the sense that it was a self-organizing
and self-regulating system."
Margulis wurde wissenschaftlich vor allem
bedeutsam durch ihre 1967 erstmals publizierte
Hypothese, dass die nukleinsäurehaltigen
Organellen der Zellen ursprünglich eingewanderte
Bakterien gewesen seien. Davon ausgehend betonte
Margulis in ihrer weiteren Arbeit im Kontrast
zur Konkurrenzbetonung im Darwinismus den Aspekt
der Kooperation von Organismen in der Evolution,
wobei auch der Mensch nur Mitspieler einer
gewaltigen, planetenumspannenden intrazellularen
Symbiose sei. Anfang der 70er Jahre traf sie
sich auf Empfehlung von Freunden mit Lovelock.
1974 veröffentlichten Margulis und Lovelock
gemeinsam die Beiträge "Biological Modulation of
the Earth's Atmosphere" in "Icarus" 21/1974
(eingereicht August 1973) und "Atmospheric
Homeostasis by and for the Biosphere: The Gaia
Hypothesis" in "Tellus" 26/1974, in denen sie
die Gaia-Hypothese ausformulierten.
Anfang der 80er Jahre entwickelte Lovelock mit
Andrew Watson das Daisyworld-Modell, die
Computersimulation eines fiktiven Planeten mit
schlichter Biosphäre aus zwei
Gänseblümchen-Arten (weiße und schwarze), die
von der Temperatur auf ihrem Planeten abhängig
sind und diese zugleich stabilisieren,
veröffentlicht in "Tellus" 4/1983 unter dem
Titel "Biological homeostasis of the global
environment: the parable of Daisyworld".
Anliegen war auch, die Gaia-Hypothese plausibel
zu machen. 1995 veröffentlichte Lovelock mit dem
Geophysiker und Klimaforscher Lee R. Kump den
Beitrag "The Geophysiology of Climate" in
"Future Climates of the World", basierend auf
Einsichten aus dem Daisyworld-Modell.
1995 erschien der Essay "Gaia is a Tough Bitch"
von Margulis im spektakulären Sammelband "The
Third Culture", den der Journalist John Brockman
veröffentlichte (dt. 1996, "Die dritte Kultur.
Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft").
Darin macht sie klar, dass "Gaia" den Menschen
nicht zu ihrem Erhalt benötige. "Gaia ist ein
zähes Weibsstück ("a tough bitch") - ein System,
das über drei Milliarden Jahre lang ohne
Menschen funktioniert hat. Die Oberfläche
unseres Planeten, seine Atmosphäre und seine
Umwelt werden auch dann noch weiter die
Evolution durchlaufen, wenn Menschen und
Vorurteile längst verschwunden sind." (Brockman
1996, S. 194) Margulis distanziert sich in
diesem Essay auch deutlich von Lovelocks
personalisierender Gaia-Konzeption: "In
Lovelocks Augen ist die ganze Welt ein
Lebewesen. Ich bin mit dieser Formulierung nicht
einverstanden. Kein Lebewesen frißt seine
eigenen Abfälle. Ich bezeichne die Erde lieber
als großes, zusammenhängendes Ökosystem, das aus
vielen kleineren Ökosystemen zusammengesetzt
ist. Lovelock möchte die Menschen glauben
machen, die Erde sei ein Lebewesen, denn wenn
sie darin nur einen Haufen Steine sehen, dann
treten sie mit den Füßen darauf, mißachten und
mißhandeln sie. Wer die Erde als Organismus
sieht, wird sie in der Regel mit mehr Respekt
behandeln. Für mich ist es eine hilfreiche
Umschreibung, keine Wissenschaft. Dennoch bin
ich mit Lovelock der Ansicht, daß das meiste,
was Wissenschaftler tun, auch keine Wissenschaft
ist. Außerdem ist mir völlig klar, daß er mit
seinem Standpunkt die Idee von Gaia weit
wirksamer vermitteln kann als ich." (Brockman
1996, S. 194)
In einem Beitrag der New York Times vom 14.
Januar 1996, "Attack of the Microbiologists",
wird Margulis wie folgt zitiert: "People think
the earth is going to die and they have to save
it. That's ridiculous. (...) There's no doubt
that Gaia can compensate for our output of
greenhouse gases, but the environment that's
left will not be happy for any people." Lovelock
vertrat lange auch diese Auffassung und warnte
mit katastrophischen Bildern vor der
Erderwärmung durch menschliches Handeln. 2012
korrigiert er seine Prognosen zur Erderwärmung.
Er vertritt nunmehr die Auffassung, Gaia werde
dafür sorgen, dass die Überlebensbedingungen für
den Menschen erhalten bleiben. Ganz unverblümt
vertritt er in "A Rough Ride to the Future" 2014
die tradierte christlich-jüdische Konzeption der
Auserwähltheit des Menschen als Krönung der
Schöpfung. Als Motto seines Buches wählt er
einen Satz von Daniel Dennett, wonach der Mensch
das Nervensystem des Planeten sei. Im Innern des
Buches propagiert er die Atomenergie als Lösung
der Erderwärmungs-Problematik.
Der Mediziner, Physiker und Psychophysiker
Gustav Theodor Fechner hatte bereits 100 Jahre
vor Lovelock und weit differenzierter als dieser
die Frage gestellt, "ob nicht die ganze Welt
über den Menschen hinaus ein psychophysisches
System ist, auf welches die am menschlichen
System bewährten Gesetze Anwendung finden"
könnten (Kuntze 1892, S. 305). Und nochmal 50
Jahre zurück hatten Kant, Fichte, Hegel und
Schelling sich mit Selbstorganisation im Bereich
des Organischen oder gar im gesamten
Naturprozess intensivst beschäftigt - teils in
harscher Abgrenzung zu vorangegangen
naturmythischen Spekulationen, teilweise im
Bemühen, deren Gehalt aufgeklärt zu bewahren.
Von all diesen Ansätzen unterscheidet sich der
von Lovelock und Margulis substantiell durch die
entschiedene Abkehr von einer
anthropozentrischen Perspektive.
Lektüreempfehlung: John Brockman, Die dritte
Kultur. Das Weltbild der modernen
Naturwissenschaft, Wilhelm Goldmann Verlag 1996
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Medea-Hypothese
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts
entwickelte der Paläontologe, Biologe und
Geologe Peter Douglas Ward (*1949) die
Medea-Hypothese, wonach das Leben auf der Erde
prinzipiell selbst-destruktiv verfasst sei.
Damit bezog Ward dezidiert die Gegenposition zur
Lovelock-Margulisschen Gaia-Hypothese. Wards
Medea-Hypothese geht auch, wie die
Gaia-Hypothese, von einem Superorganismus aus,
sieht dessen Praxis jedoch nicht auf
Selbsterhaltung, sondern auf Selbstzerstörung
ausgerichtet. Belege sieht er in der Methankrise
vor 3,7 Milliarden Jahren, der
Sauerstoffkatastrophe vor 2,5 Milliarden Jahren,
zwei globalen Vergletscherungen vor 2,3
Milliarden und vor 790–630 Millionen Jahren und
mehreren Schwefelwasserstoffkatastrophen -
jeweils verbunden mit Massenaussterben höherer
Lebensformen.
Die Grundlage für die Medea-Hypothese findet
sich in einer Publikation Wards von 2004, mit
dem Titel "Gorgon", benannt nach den
Gorgonopsiden, einer reptilienartigen
Säugetiergruppe, die am Ende des Perm einem der
fünf großen Massensterben der Arten zum Opfer
fiel. Und deren Namen bereits (wie dann "Medea")
auf die griechische Mythologie verweist, die
Gorgonen, geflügelte Schreckgestalten.
Allerdings wird für dieses Massenaussterben ein
externes Ereignis, ein Asteroideneinschlag,
verantwortlich gemacht. Von "Selbstzerstörung"
kann hier korrekterweise nicht die Rede sein. Im
Epilog von "Gorgon" heißt die Nebenüberschrift
"Are We Living on a Safe Planet?". Die dort
gegebene Antwort, ein großes Nein, vertritt die
Auffassung, dass wir es nur Zufällen verdanken,
dass dieser Planet schließlich uns als
Menschheit hervorgebracht habe. Mit einer
erstaunlichen Wendung zu einer Position, die
eher Frank Wuketits zugeordnet wird: "Mass
extinctions are thus agents of evolutionary
novelty".
Der österreichische Biologe Franz Wuketits hatte
zehn Jahre vor "The Medea-Hypothesis" schon
vorweggenommen, was heute vom breiten Publikum
Ward zugeschrieben wird. Wuketits schreibt unter
dem Titel "Die Selbstzerstörung der Natur -
Evolution und die Abgründe des Lebens" über die
Bedeutung von Katastrophen für die Geschichte
der Biologie. Für Wuketits führte - im Anschluss
an Darwin - Zerstörung in der Natur zur
Weiterentwicklung und letztlich zum Menschen,
sie hatte also eine konstitutive Rolle für die
Menschheit. Er führt auch aus, dass die
Zerstörung der Natur durch den Menschen im
aktuellen Zeitalter nur eine Ausprägung der
naturimmanenten Zerstörungspotentiale sei. Und
dass die Zerstörung notwendiges Korrelat neuer
Schöpfungen sei. Der Mensch sei "zum größten
Katastrophenbeschleuniger in der Natur geworden"
und er zähle daher "wahrscheinlich (...) schon
heute zu den 'Auslaufmodellen' der Evolution"
(Wuketits 1999/2002, S. 135).
Ward geht davon aus, dass die meisten
Massenaussterben nicht durch externen Einfluss,
also Asteroideneinschlag, oder Vulkanausbrüche
und ähnliche nicht-biologische Ursachen (die bei
Wuketits dominieren) bedingt wurden, sondern
durch biologische Effekte auf der Erde selbst,
durch "wildgewordene Mikroben" ("microbes gone
wild" - Ward 2009, S. 82). Seine Kernthese
lautet: "Habitability of the Earth as been
affected by the presence of life, but the
overall effect of life has been and will be to
reduce the longevity of the Earth as a habitable
planet." (Ward 2009, S. 35). Wards
provokativ-pessimistische Medea-Konzeption ist
auch vor dem Hintergrund der
wirtschaftsliberalen Restauration um die
Jahrtausendwende zu verstehen, die Stellung
unter anderem gegen ökologisch begründete
Regulierungen des Wirtschaftslebens bezog, die,
im schlichten Verständnis, von einer letztlich
dem Menschen wohlgesonnenen Natur ausgehen.
Die Medea-Hypothese wurde dann von Ward selbst
nicht weiter entwickelt. Sein gemeinsam mit Joe
Kirschvink (dem "The Medea-Hypothesis" gewidmet
ist) publiziertes Werk, "A New History of Live"
von 2015, vermeidet weitgehend den Bezug zur
Gaia-Hypothese und ebenso den Anschluss an die
eigene Medea-Hypothese. Lediglich im letzten
Kapitel, "Die Zukunft des Lebens auf der Erde",
wird "die Medea-Hypothese von Koautor Ward"
(Ward/Kirschvink 2016, S. 488) kurz erwähnt,
versehen mit der "letzten Voraussage", die aus
ihr ableitbar sei: "Aus dem selbstmörderischen
Gefängnis, das das Leben schlicht durch seine
Existenz schafft, gibt es nur einen Ausweg -
Intelligenz." Und diese Intelligenz könnte etwa
dazu führen, "dass unsere Spezies ihren
Lebensraum zuerst auf den Mars, dann auf die
Asteroidengürtel und am Ende auf andere Sterne
erweitert" (ebd., S. 492). Jeder Ansatz zu einer
Teleologie, einer negativen wie einer positiven,
fehlt. Im Kern steht vielmehr die Aussage, dass
wir aus den Katastrophen der Vergangenheit
lernen könnten, künftige zu vermeiden oder
diesen angemessen zu begegnen. Da alle
vergangenen Massenaussterben mit massiven
klimatischen Veränderungen verbunden waren,
sollten wir die aktuelle Klimaerwärmung auch als
ernsthafte Warnung annehmen (ebd., S. 15).
Lektüreempfehlungen: Franz M. Wuketits, Die
Selbstzerstörung der Natur - Evolution und die
Abgründe des Lebens, Patmos 1999 (zit.
Taschenbuchausgabe dtv 2002). Peter Ward, The
Medea-Hypothesis, Princeton University Press
2009 . Peter Ward/Joe Kirschvink, Eine neue
Geschichte des Lebens, Pantheon 2016 (zuerst
engl. 2015)
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Naturdinge als
Rechtssubjekte
Ende der 1960er
Jahre wollte die Walt Disney Company im Sequoia
Nationalpark, mitten im Dreieck San
Francisco-Los Angeles-Las Vegas gelegen, ein
Skiresort mit 22 Pisten anlegen - plus einer
Autobahn quer durch den Nationalpark. Die
Umweltschutzorganisation Sierra Club, gegründet
1892, reichte beim Obersten Gerichtshof eine
Klage ein, die 1972 abgelehnt wurde. Durch
öffentlichen Druck wurde das Projekt dennoch
durch eine Kongressentscheidung 1978, unter der
Carter-Regierung, gestoppt.
Im Kontext der Auseinandersetzung
veröffentlichte der nordamerikanische Philosoph
und Jurist Christopher D. Stone 1972 im
"Southern California Law Review" den Essay
"Should Trees have Standing?". Der Bundesrichter
William O. Douglas griff Stones Programm auf und
führte in seinem Dissens zur Klageentscheidung
im gleichen Jahr unter anderem aus:
"Inanimate
objects are sometimes parties in litigation. A
ship has a legal personality, a fiction found
useful for maritime purposes. The corporation
sole — a creature of ecclesiastical law — is
an acceptable adversary, and large fortunes
ride on its cases. The ordinary corporation is
a "person" for purposes of the adjudicatory
processes, whether it represents proprietary,
spiritual, aesthetic, or charitable causes.
So it should be
as respects valleys, alpine meadows, rivers,
lakes, estuaries, beaches, ridges, groves of
trees, swampland, or even air that feels the
destructive pressures of modern technology and
modern life. The river, for example, is the
living symbol of all the life it sustains or
nourishes — fish, aquatic insects, water
ouzels, otter, fisher, deer, elk, bear, and
all other animals, including man, who are
dependent on it or who enjoy it for its sight,
its sound, or its life. The river as plaintiff
speaks for the ecological unit of life that is
part of it. Those people who have a meaningful
relation to that body of water — whether it be
a fisherman, a canoeist, a zoologist, or a
logger — must be able to speak for the values
which the river represents, and which are
threatened with destruction."
Wir haben hier eine der ersten
zeitgenössischen Begründungen für die
Behandlung von Naturdingen als Rechtssubjekte
vorliegen. Vorläufer kennen wir aus der frühen
Neuzeit, allerdings ex negativo, insofern bis
ins 17. Jahrhundert hinein Tiere verschiedenen
Dokumenten zufolge als strafmündig angesehen
wurden. Der Historiker Peter Dinzelbacher,
spezialisiert auf die Erforschung des
Mittelalters, veröffentlichte 2006 die
Untersuchung "Das fremde Mittelalter.
Gottesurteile und Tierprozesse". Damit trug er
das Thema ins allgemeine Bewußtsein,
insbesondere mit seinem gerne zitierten
Beispiel des Maikäferprozesses von Lausanne.
Allerdings bestehen an der Ernsthaftigkeit
dieser Prozesse erhebliche Zweifel, unter
anderem vorgetragen von der Rechtshistorikerin
Eva Schumann, die als ursprüngliche Quelle
solcher Berichte Schwänke und Anekdoten
annimmt, die das Genre der Fabel aufgreifen
(Eva Schumann: Tiere sind keine Sachen, in:
Beiträge zum Göttinger umwelthistorischen
Kolloquium 2008-2009).
Der Ansatz von Stone und Douglas 1972 ist ein
anderer. Er geht nicht von Ähnlichkeiten und
Verwandtschaften in den Verhaltensweisen und
Vermögen von Tieren und Menschen aus, sondern
von einer Wertschätzung, die eher dem
Sachenrecht entstammt. Dieser Ansatz tritt
aktuell zurück hinter dem Bemühen, im
Tierreich Rechtssubjekte über
Empfindungsvermögen zu bestimmen.
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Paradise
Engineering
Der
utilitaristische Philosoph und Futurologe David
Pearce wurde bekannt als Mitbegründer der "World
Transhumanist Association", seit 2008
"Humanity+". In einem Videostatement definiert
er "transhumanism" als "the idea that we can use
technology to overcome our biological
limitations". Auf seiner Website will er zeigen,
"how biotechnology will eradicate suffering in
all sentient life". Der Zeithorizont ist dabei
sehr großzügig gewählt. In etwa 1000 Jahren, so
skizziert er in einem Vortrag 2008 ("The
Reproductive Revolution"), sei die Menschheit
gentechnologisch so weit entwickelt, dass es
weder Leid noch Tod gebe, nur immerwährendes
Glücklichsein: "Suffering of any kind will be
biologically impossible."
Pearce sieht die Menschheit in der Pflicht,
zunächst im eigenen Verhalten, durch eine strikt
vegane Lebensweise, Leiden für die Tierwelt zu
vermeiden. Darüber hinaus aber sei die
Menschheit ethisch verpflichtet, neben der
Abschaffung des Leidens für die Menschheit und
des Leidens durch die Menschheit auch das
inhärente Leiden in der fühlenden Tierwelt
umfassend zu beenden durch "Paradise
Engineering". Unter anderem sollen Beutegreifer
langfristig umprogrammiert werden zu
vegetarischer Ernährung.
In "Compassionate Biology" führt Pearce aus, wie
schon zum Ende dieses Jahrhunderts ein
"High-tech Jainism" für die fühlende, sich
sexuell reproduzierende Tierwelt Leiden
drastisch reduzieren könne, zu geringen Kosten.
Pro Spezies rechnet er mit gerade einmal 10.000
Dollar, um eine entsprechende genetische
Veränderung einzuschleußen in das Genom. Diese
Veränderung könne z.B. eine signifikant erhöhte
Schmerztoleranz bewirken. Weitere Eingriffe
sollen langfristig aus Beutegreifern Vegetarier
machen, davor könnten sie leidensmindernd mit
Kunstfleisch ernährt werden.
Pearce betreibt u.a. die Website
"www.paradise-engineering.com", die sein
Manifest von 1995, "The Hedonistic Imperative.
Heaven on Earth?" präsentiert. Am Beginn von
"The Molecular Biology of Paradise", einer
Bilderstrecke zum Text des Manifestes, tritt der
utilitaristische Theologe, Physiker und Chemiker
Joseph Priestley (1733-1804) auf mit seinem
Diktum "Whatever was the beginning of this
world, the end will be glorious and paradisical,
beyond what our imagination can conceive". Damit
schließt Pearce sich dem eschatologischen
religiösen Diskurs an, den wir etwa von Edward
Hicks und der Quäkerbewegung allgemein kennen.
Im Kapitel "Reprogramming Predators" wird
entsprechend Jesaja 11:6 zitiert: "And the wolf
shall dwell with the lamb".
Inzwischen werden die Pearceschen Ideen auch
gelegentlich in den Auseinandersetzungen
zwischen PETA und Jägerschaft zitiert.
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Epochenschwelle
Corona
Schon während der
sogenannten "ersten Welle" der Corona-Pandemie
tauchte die Rede davon auf, nach Corona sei
nichts mehr wie vorher. Und dies aus ganz
unterschiedlichen Perspektiven. Der ehemalige
Media-Markt-Saturn-Chef Wolfgang Kirsch bezog
sich auf die Einkaufsgewohnheiten, die
zeitgemäßer würden, der italienische Philosoph
Giorgio Agamben sah einen neuen Totalitarismus
aufziehen - um nur zwei bezeichnende Beispiele
zu nennen. Zunächst verhalten wurden dann auch
die Begriffe "Epochenbruch" und
"Epochenschwelle" eingebracht - und zügig als
unangemessen oder im Corona-Blick verengt
kritisiert, so von Andreas Reckwitz, der in der
ZEIT am 10. Juni 2020 davon schrieb, dass wir
uns schon seit einigen Jahrzehnten in einem
Epochenumbruch befänden. Und zu erinnern ist
etwa daran, dass Bischof Karl Kardinal Lehmann
schon zur Jahresschlussandacht 2015 im Hohen Dom
zu Mainz mit Blick auf die Flüchtlingskrise und
die Klimaerwärmung die Frage stellte, ob wir an
einer Epochenschwelle stünden.
Mit der "zweiten Welle" kehren diese Begriffe
nun (Stand Dezember 2020) aufgefrischt und
angesichts des zweiten Lockdowns sowie weiterer
hoch infektiöser Virusmutationen nicht mehr so
ohne weiteres negierbar zurück. Dabei zeichnen
sich drei Dimensionen ab, die ihre Anwendung zu
rechtfertigen scheinen. Zum einen werden
ideologische Kernbestände der liberalen
Marktwirtschaft in einem bislang unvorstellbaren
Maße erodiert. Wenn ernsthaft über öffentlich
finanzierte "Unternehmergehälter" diskutiert
wird - und sei es zunächst nur für Freiberufler
und Kleingewerbe - ist der Bereich dessen, was
bislang über Subventionen, Schutzzölle,
Staatsaufträge und ähnliche Stützungsmittel
"unfrei" an der freien Wirtschaft war, definitiv
verlassen. Auch die massive Unterstützung eines
privatwirtschaftlich organisierten
Infrastrukturunternehmens wie der Lufthansa
bringt Verwerfungen, die der aktuell
auffrischenden Kapitalismuskritik ein fünftes
Movens beschert - nach Klimaerwärmung,
internationalen Fluchtbewegungen,
Wassernotständen und Biodiversitätsschwund. Zum
anderen und mit der Kapitalismuskritik verbunden
wird sich das Verhältnis Individuum-Kollektiv
verändern, wobei die Perspektive denkbarer
Entwicklungen von neuen Totalitarismen bis hin
zu neuen gesellschaftlichen Freiräumen für
Gruppen und Lebensstile weit offen ist.
Hier möchte ich noch einen dritten Prozess
bedenken: Zu erwartende, ja schon ablaufende
Umstrukturierungen, Neuformierungen in unseren
gesellschaftlichen und individuellen
Naturverhältnissen.
Seit Jahren, verstärkt seit Beginn der
Corona-Pandemie, wird darauf hingewiesen, dass
die Bedrängung der Wildtiere in ihren
natürlichen Lebensräumen und die Zerstörung
ihrer Lebensräume grundsätzlich den
Viren-Übergang von Tieren auf Menschen
(Zoonosen) begünstige - zumal in den zerstörten
Lebensräumen häufig Siedlungen entstehen.
Regionen wie Südostasien und Südamerika, in
denen in besonderem Umfang seit Jahren
großflächig Wälder gerodet werden, bieten
besonders fatale Voraussetzungen für Epidemien
und Pandemien auf der Basis von Zoonosen (zu
denen neben Corona auch HIV und andere besonders
bedrohliche Infektionskrankheiten der jüngeren
Zeit gehören). Wobei in Südostasien auch noch
der Verzehr virusbelasteter Wildtierarten zur
Risikoerhöhung hinzukommt. Mit der
Lebensraumzerstörung verbunden ist ein Rückgang
der Biodiversität, was zum Überleben und zur
Ausbreitung einiger anpassungsfähiger
Generalisten führt, die als Virensammler
fungieren und gerade die besonders
anpassungsfähigen Virenarten verbreiten. Am 29.
Oktober 2020 veröffentlichte der
UN-Weltbiodiversitätsrat IPBES die Ergebnisse
seines sommerlichen Workshops zu "Biodiversität
und Pandemien". Der Agroökologe, Biologe und
Umweltforscher Josef Settele hat mit seinem Buch
"Die Triple Krise" am 6.11.2020 eine hilfreiche
Zusammenfassung der bisherigen einschlägigen
Forschungsergebnisse veröffentlicht und
Pandemien, Klimawandel und Artensterben als drei
Folgen des gleichen menschlichen
(Fehl-)Verhaltens eingeordnet: Folgen der
weitgehend uneingeschränkten Ausbeutung der
Natur durch Politik, Wirtschaft, Gesellschaft
und kriminelle Strukturen.
Das große Versprechen des
naturwissenschaftlich-ökonomischen Naturumgangs
hieß: Sicherheit zu bieten gegenüber den
Unberechenbarkeiten der Naturprozesse, gegen die
elementaren Lebensbedrohungen durch Krankheit,
Hunger und Witterung. Alle drei Bedrohungen
kehren nun in beunruhigenden Ereignissen auf der
Rückseite der geleisteten Naturbeherrschung
zurück, Krankheit in Gestalt von Covid-19 u.a.,
Hunger als absehbare strukturelle Folge des
Biodiversitätsschwundes (eingebunden in den
Komplex der Degradation von Böden sowie
Wasserreservoires) und Witterung in den
Auswirkungen der Ressourcenverschwendung als
Klimaerwärmung durch Methan und CO2. Covid-19
kommt dabei insofern eine besondere Funktion zu,
als die Folgen menschlichen Fehlverhaltens im
Naturumgang nun unmittelbar und individuell
erlebbar auch in wohlhabenden Ländern
lebensbedrohend werden und darüber hinaus
Freiheit und Konsummöglichkeiten, die
Legitimationspfeiler der einschlägig noch
dominierenden Gesellschaftssysteme, erheblich
einschränken. Eines der wichtigsten Stichworte
zum Verständnis des Umgangs mit Covid-19 ist der
Kontrollverlust. "Vor Corona kann man nicht
davonlaufen!" - Dies sagte die elfjährige
Tochter von Freunden 2020 zu mir. Und sie trifft
damit den Kern unseres Problems mit Covid-19.
Ihre Position kindlicher Demut desavouiert aufs
Schärfste die Demonstration von
Allmachtsphantasien, die sich an
Lockdown-Regelungen und
Impfstoffverteilungspläne klammern und die
totale Rückverfolgbarkeit der Infektionen zum
Credo machen. Dem gegenüber fordert der
UN-Weltbiodiversitätsrat Ursachenbekämpfung ein
- und das heißt auch, die Pandemie nicht nur mit
den Prinzipien zu bekämpfen, die sie mit
verursacht haben, sondern an diesen Prinzipien
zu rütteln.
Die Zukunft wird zeigen, ob die Antwort nun eine
weitere "Humanisierung" des Planeten im Sinne
einer totalen Zurichtung auf menschliche
Bedürfnisse sein wird, mit weiteren
Ausrottungswellen zur (gezielten oder
beilaufenden) Reduktion der Grundlagen für
Zoonosen, oder eine substantielle Anerkennung
der Humanität begründenden und erhaltenden
Leistung des Naturhaushaltes und der
Biodiversität insgesamt.
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